Dachschaden durch Strohausfall

Ich erinnere mich noch gut. Vor vielen Jahren hatten wir in Dänemark ein Strohdachhaus mit Nordsee-Meerblick gebucht. Als wir angekommen waren, fiel uns auf, dass der verwunschene Weg, der hoch zum Haus führte, fast zugewachsen war. Ich musste unseren kleinen Hund auf den Arm nehmen, während wir uns zum Eingang durcharbeiteten. Als wir die Tür aufschlossen und hineingingen, fühlte ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt. Leider handelte es sich eindeutig um eine Zeit mit wenig Komfort. Mein Verstand wollte sich beschweren, während das romantische Vintage-Gefühl in mir Purzelbäume schlug. Egal, wir schleppten erst einmal unsere Sachen hinein. Dann sahen wir uns stumm um:

Die Lichtschalter stammten wohl aus der Zeit, in der das elektrische Licht gerade eingeführt worden war. Auch an der Küche war seither jede moderne Entwicklung vorbeigegangen. Wo war nur der Kühlschrank? Wir fanden ihn  in einer Art Kellervertiefung mit Holztreppchen am Ende des Raumes. Dort wurde wohl schon früher alles ohne künstliche Kühlung frisch gehalten. Der Gossenstein (Spüle) und der Zweiplattenherd ließen mich erschaudern, von der Pfanne und den Töpfen ganz zu schweigen. Aber zunächst gab es Wichtigeres.

Nach der langen Fahrt musste ich erst einmal dringend für kleine Urlauber. Das Wasserklosett funktionierte zufriedenstellend, wenn man davon absah, dass unten ein wenig Wasser in einem Rinnsal herauslief – zum Glück handelte es sich um Frischwasser.

Ich fragte mich, ob das Stroh auf dem Fußboden dafür gedacht war, das Wasser aufzusaugen? Mir wurde ganz anders und wir sahen uns weiter um. Im Schlafzimmer waren an den Wänden hübsch geblümte Tapeten, die mustertechnisch direkt in die Gardinen übergingen, als gäbe es überhaupt keine Vorhänge. In Gedanken gab ich einen Abzug in der B-Note! Aber das war noch nicht alles. Überall sahen wir Blüten, sogar der Teppichboden war geblümt. Eindeutig „to much“, selbst für eingefleischte Landhausstil-Liebhaber! Ich mag grundsätzlich geblümte Muster, aber in diesem Haus war
bestimmt jeder froh, dass er nachts die Augen geschlossen hatte.

Als mein Blick auf das Bett fiel, sah ich dort schon wieder Stroh. Und eines stand fest, es war sicher nicht dafür gedacht, Wasser aufzusaugen und es gehörte auch nicht zur Dekoration. Warum es dort wohl lag? Langsam dämmerte es mir und ich schaute nach oben. Natürlich, das Stroh kam direkt vom Dach und war einfach, zwischen die Holzdielen der Zimmerdecke hindurch, nach unten gefallen.

Um uns zu vergewissern, gingen wir die schmale Treppe hinauf und fanden uns auf einem großen Dachboden wieder. Tatsächlich, die alten Holzdielen waren mit Strohhalmen übersät, entsprechend marode zeigte sich das Dach über uns. Es hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Ich stellte mir vor, wie gemütlich es im Haus sein musste, nach einem starken Regenguss und was ein Gewitter oder ein Kurzschluss in der alten Stromleitung alles anrichten konnte … Mir wurde ganz schaurig zumute.

Vorsichtig gingen wir wieder nach unten und nahmen das Wohnzimmer in Augenschein. Das hatte auf dem Foto im Prospekt so gemütlich gewirkt. Und tatsächlich, es war auch mal gemütlich gewesen – jedenfalls vor ungefähr 50 Jahren. Der geblümte Ohrensessel, der offene Kamin, wie für eine Filmkulisse gemacht. Das Ganze erinnerte mich an die Miss Marple Verfilmungen, jedenfalls auf den ersten Blick. Man durfte jedoch nicht genau hinsehen. Die Fußleisten waren durchweg vergammelt, ebenfalls die Terrassentür. Alles war schmuddelig und renovierungsbedürftig.

Neben der Tür stand ein Zinkeimer mit Sand, in denen Kippen steckten. Die Gartenmöbel bestanden aus einem durchgesägten Baumstamm auf Beinen, der als Tisch dienen sollte, und einer harten Holzbank ohne Lehne. Um die Ecke standen die rostigen Überbleibsel eines Liegestuhls. Meine Freude war stark getrübt, genauso wie die Fensterscheiben, durch die man laut Prospekt den Meerblick hätte genießen sollen. Mein Mann und ich sahen uns an; ein Blick genügte. Der fragende Blick unseres Hundes ging zwischen uns hin und her. „Was hat Herrchen denn? Warum ist Frauchen so traurig?“

Jenny verstand die Welt nicht mehr. Die Enttäuschung über unseren wortlos gefassten Entschluss war ihr ins Gesicht geschrieben. Und als wir tätig wurden, hatte ich den Eindruck, Jennys Gedanken lesen zu können: „Leute, die Hütte gefällt mir, sie riecht total interessant. Ich wollte schon immer mal Abenteuerurlaub mit euch machen. Also wieso packt ihr alle Sachen wieder in das doofe Auto zurück, sogar meine Näpfe und meine Schlafhöhle?“

Auf den Geschmack unseres Hundes konnten und wollten wir keine Rücksicht nehmen und begaben uns schnurstracks zur Ferienhausvermittlung. Dort angekommen, brauchten wir nicht viel zu sagen. Die zuständige Dame gab uns sofort drei Schlüssel von anderen Ferienhäusern, von denen wir uns ein annehmbares aussuchten und dann doch noch einen schönen Urlaub verleben konnten.

Heute frage ich mich, ob ein solches Haus im Zeitalter des Internets überhaupt noch eine Chance hätte, gebucht zu werden. Aber wahrscheinlich ist es ohnehin schon längst in Flammen aufgegangen. Ja, Gewitter können eine reinigende Wirkung haben.

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