Freie Sicht auf „anständige“ O-Beine

In mein Elternhaus kam früher monatlich eine Schneiderin. Bevor ich geboren wurde, nähte sie für meine Großmutter oder kümmerte sich um die Zuschnitte für neue Kleider.

Es mag sein, dass sie in ihrer Jugend etwas von Mode verstand, also vierzig Jahre, bevor ich sie kennenlernte. Die Mode entwickelte sich jedoch weiter, im Gegensatz zu ihr. Man kann sagen, für sie war der Zug abgefahren und ich hatte deshalb nichts Abgefahrenes zum Anziehen.

Ich konnte sie nicht ausstehen. Ihre vorstehende wabbelige Unterlippe, die sie ständig zum Anfeuchten ihrer Finger und des Garns benutzte, hing herunter wie bei einem Kamel. Sie war hauptsächlich damit beschäftigt very geschmackvolle Kleider zu nähen oder alte, geerbte Kleidung irgendwie passend zu machen, hauptsächlich für mich. Meine Brüder wurden davon verschont. Damals wünschte ich, ich wäre ein Junge und möge dieses Kamel, ähh dieser Kelch an mir vorübergehen.

Den Begriff uncool gab es noch nicht, aber ich konnte ihn schon fühlen. Das zog sich durch bis zu meinem Secondhand-Konfirmationskleid. Ab dann trug ich hauptsächlich unanständige Jeans, die ich mir selber kaufte. Zur Finanzierung meines modischen Befreiungsschlags jobbte ich neben der Schule. Natürlich betätigte ich mich auch kreativ, um möglichst günstig über die Runden zu kommen.

Mein erstes T-Shirt hatte ich mir selbst kreiert, indem ich ein altes kurzärmeliges Herren-Unterhemd mit Knopfleiste enger genäht und dann gefärbt hatte. Dazu trug ich Lederbänder an Hals und Handgelenk und derbe Schnürboots, im Sommer Jesuslatschen. Meine Haare ließ ich einfach rechts und links von einem sogenannten Poposcheitel herunter wachsen. Mein Vater flippte zuerst aus und gab dann auf.

Er war der Meinung, dass ein anständiges Mädchen keine Hosen trägt, von Frauen ganz zu schweigen. Und weil es noch das Modediktat gab, zeigten damals alle anständigen Frauen ihre Beine. Egal ob dadurch Krampfadern, Wasseransammlungen, O-Beine oder dunkle, lange Haare kreuz und quer hinter den Nylonstrümpfen zu sehen waren und ob sie sich damit wohlfühlten.

Und als dann der Minirock in Mode kam, wurden die Röcke für alle Frauen etwas kürzer. Auch die Nachbarin, Elfriede, die sich meinen Vater als Liebhaber angeln wollte (aber das ist eine andere Geschichte), zeigte plötzlich ihre knochigen Knie. Was sollte daran anständig sein?

In den 1970er Jahren wurde der Minirock für junge Mädchen dann so unanständig kurz, dass er sehr unpraktisch und unbequem zu tragen war. Niemand konnte sich damit frei bewegen, geschweige denn bequem sitzen, was mit einer Hose jederzeit möglich ist. Ich habe mich immer gefragt, weshalb eine Hose, die definitiv weniger preisgibt als ein Rock, weniger anständig sein soll? Der schöne Begriff „anständig“ sollte für solche Aussagen nicht mehr missbraucht werden dürfen.

Heute kann FRAU so ziemlich alles tragen, was ihr gefällt. Neulich beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit waren viele Menschen aus dem öffentlichen Leben geladen. Leider saßen in der ersten Reihe Frauen, die wohl nicht berücksichtigt hatten, dass beim Sitzen mit einem engen Rock viel mehr Bein zu sehen ist, als beim Stehen. Für ein Date mag das perfekt sein, aber für offizielle politische Anlässe empfinde ich es international gesehen eher als unpassend und unnötig.

In der Politik heißt es doch immer, dass alle Seiten und alle Kulturen ein bisschen Annäherung anstreben sollten. Wen wollten manche Frauen mit ihren Beinen beeindrucken? Es gibt so viele anziehende Möglichkeiten zwischen bodenlangen Mänteln und Freier Sicht auf Oberschenkel. Dazu müssen die Frauen nicht auf jeden Mode-Zug aufspringen; sie können einfach das anziehen, was zu ihnen passt und ihnen steht.

Was mich betrifft, so lasse ich die inzwischen zahlreichen, kreuz und quer fahrenden Designer-Züge an mir vorbeirasen und bin trotzdem modisch unterwegs, ganz entspannt und bequem.

Ich habe meine Erfahrungen gemacht und weiß, dass High Heels genauso „bequem“ sind wie Miniröcke „anständig“. Und was ich gar nicht brauchen kann, sind offene Beine, auch nicht an den Hosenbeinen meiner Jeans. Manche Jeans sehen aus, als wären sie schon 10 Jahre mit anderen durch dick und dünn gegangen. Das muss ich nicht mehr haben. Ich war schon früher von Kopf bis Fuß mit Used-Klamotten im Vintage Stil eingekleidet. Modisch gesehen fünfzig Jahre zu früh, wie sich jetzt herausstellt. Heute kann mich dieser Oldtimer-Zug mal (überholen).

Ich habe schon viele Mode-Rivivels erlebt, Trends kommen und gehen gesehen. Deshalb nehme ich mir jetzt die Freiheit zu sagen: Hingucker um jeden Preis gehen mir am ”Bobbes“ vorbei, auch was die Frisur betrifft! Ein schiefer Pony stand mir schon früher nicht. Ich lasse mir lieber in der Natur den Wind um die Nase und meinen Lieblings-Haarschnitt schief wehen.

In meinem Alter kann man sich cool zurücklehnen, abwarten und Tee trinken!

Frisurtechnisch meiner Zeit voraus

Jeder weiß, welchen Stellenwert Taschen und Schuhe für Frauen haben. Ich wusste das schon als Kind, aber das war meiner Umwelt egal. Ich wollte gerne in den Kindergarten gehen, mit einer richtigen Kindergartentasche. Die hatte es mir angetan. Bei anderen Kindern hatte ich solche Taschen schon gesehen. Und ich stellte es mir schön vor. Aber ich durfte weder in diese Einrichtung noch eine solche Tasche haben. Das kostete nun einmal Geld und war in den Augen meiner Eltern unnötig.

Während meine Brüder in der Schule waren, beschäftigte ich mich also selber oder half meiner Mutter, z.B. beim Bohnern der Fußböden und der zahllosen Treppenstufen im ganzen Haus. Dann kam meine Einschulung. Meine Mutter ging nicht mit und blieb bei meiner kleinen Schwester, die damals erst ein paar Monate alt war. Heutzutage ist es normal, dass die Mütter ihre Babys mit zur Einschulung ihres älteren Kindes nehmen, aber damals wohl nicht. Also begleitete mich meine Großmutter. Leider hatte sie keinen Einfluss auf meine äußere Erscheinung, sonst wäre dieser Tag eindeutig anders verlaufen. Heute frage ich mich: „Wo war Amnestie International, als ich eingeschult wurde?“

Es war nicht das Schlimmste, dass meine Kleidung und mein Haarschnitt zu wünschen übrig ließen. Ich kannte es nicht anders. Die ausgeleierten Kniestrümpfe rutschten ständig hinunter zu meinen alten braunen Secondhand-Halbschuhen, und mein Secondhand-Rock saß zipfelig schief. Oder sollte ich besser Fourth-Hand schreiben, denn das würde es besser treffen. Es bestand keine Gefahr, dass aus mir ein eingebildeter Mensch werden könnte.

Von meinem Gesicht konnte man besonders viel sehen, denn der Pony war schräg geschnitten und begann ganz oben am Haaransatz. Das war aber nicht das Verbrechen eines Friseurs, nein, meine Mutter hatte mir die Haare geschnitten. Es hätte mich auch nicht getröstet, wenn ich damals gewusst hätte, dass ungefähr fünfzig Jahre später genau diese Frisur in einer Modezeitschrift abgebildet werden würde, und zwar als Highlight. Mit dem Haarschnitt war ich meiner Zeit also weit voraus – ein bisschen zu weit für ein Kind, würde ich sagen. Aber auch das war nicht das Schlimmste für mich an diesem Tag. Der Tornister war das wirkliche Problem.

Mein Interesse galt nämlich einzig und allein der Schultasche! Sie konnte sicher alles andere überstrahlen, und ich hatte sie mir schon im Traum ausgemalt. Aber dann wurde ich in die Realität zurückgeholt; ich bekam einen uralten, abgetragenen Tornister aus den 1930er Jahren. Heute würde man ihn als Vintagemodell bezeichnen und sicher besonders viel Geld dafür hinlegen. Damals war es eine praktische und vor allem günstige Lösung für meine Eltern. Sehr schmal, sehr hart, sehr dunkel und mit nur einer sehr umständlich zu handhabenden und schon sehr strapazierten Dorn-Schließe.

Solche Schulranzen hatte ich in der Hasenschule gesehen. Das war ein Bilderbuch, das es heute noch zu kaufen gibt. Die Hasen trugen auf ihren Rücken diese Art Tornister, aus denen eine Schnur hing, an der ein Schwamm baumelte, direkt neben ihrem Puschel-Schwänzchen. Den brauchten sie (den Schwamm, nicht den Puschel), um ihre kleinen Schultafeln abzuwischen, die sie zusammen mit ihren Büchern und ihren Griffeln dabei hatten. Zu den Hasen passten die Tornister, aber die waren auch zu einer ganz anderen Zeit „zur Schule gegangen“ als ich.

Alle meine Mitschüler hatten neue, helle, traumhaft schöne, moderne Schulranzen mit verschiedenen Fächern, einem Reißverschluss-Fach und zwei Vorfächern mit zwei praktischen Schnapp-Schlössern. Schon damals erkannte ich jedes Detail und machte mir meine Gedanken darüber, wie man die eine oder andere Schultasche noch optimieren könnte.

Ja, ich kann sagen, dass ich schon damals ein Gespür für Taschen hatte, und das ist mir geblieben; sie ziehen mich förmlich an. Manche von ihnen würde ich glatt erfinden, wenn es sie nicht schon gäbe und ich die Gelegenheit dazu bekäme. Und damit meine ich nicht nur Handtaschen, sondern auch Kindergartentaschen, Schulranzen, Cityrucksäcke, Aktentaschen, Reisetaschen … Es gibt für alles die passende Tasche und eine Entstehungsgeschichte dazu.

Wahrscheinlich verfügte MEIN Tornister auch über eine solche Geschichte. Das ändert aber nichts daran, dass er eindeutig zu den Tiefpunkten meines Lebens zählte. Für mich war und blieb er ein Hasen-Schulranzen, nur ohne Schwamm. An meinem Taschen-Defizit habe ich seit dem qualitativ gearbeitet und bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Also Schwamm drüber.

Stadtauswärts zur alkoholfreien Kultur

Die Nachbarin und Freundin meiner Mutter, Elfriede, hat sich schon lange vom aktiven Vereinsleben der Alkoholfreikulturellen zurückgezogen und lebt im Heim, aber meine Mutter ist nach wie vor Mitglied und will an jedem Event teilnehmen. Sie will alles Mögliche mitmachen. Das ist ihr Rhythmus, bei dem sie immer mit muss. Zumindest meldet sie sich stets dafür an, auch wenn sie kurz vor dem Termin wieder einen Rückzieher macht.

Dieselbe Prozedur wie letztes Mal? Dieselbe Prozedur wie jedes Mal! Das kenne ich schon und bin im Grunde darauf vorbereitet; so war es auch vor ein paar Tagen.

Sie hatte mich darum gebeten, sie zu dem gemütlichen Beisammensein zu fahren, was ich auch gerne tat. Es fand diesmal in einem Gemeindehaus weit draußen statt. Als ich bei ihr ankam, jammerte sie erst einmal, dass es ihr nicht gut gehen würde und sie ohnehin nicht zu dem Treffen wolle. Natürlich war sie auch noch nicht umgezogen und stand vor mir in ihrer viel zu weiten karierten Stoffhose und der alten Ringelbluse, die sie lässig mit einer Kunstfellweste kombiniert. (Ihre Lieblingsstücke für den Alltag.) Es dauerte eine Weile und es brauchte viel Zusatzarbeit und Überredungskunst meinerseits, bis wir endlich im Auto saßen und stadtauswärts fahren konnten.

Durch diese Gegend war ich als Kind oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren. Ich erkannte die Häuser, aber trotzdem wirkte alles so fremd. Es waren viele verschiedene Menschen aus vielen unterschiedlichen Nationen unterwegs. Alles sah ziemlich durcheinander aus und viele Häuser waren äußerlich heruntergekommen. Für mich ein bisschen zu viel Realität für diesen Nachmittag, der schon so very angenehm bei meiner Mutter begonnen hatte. Ich war heilfroh, dass nicht auch noch Elfriede mit von der Partie war; sie hätte mir den Rest gegeben.

Meine Mutter war wie aufgezogen und erzählte und fragte immer und immer wieder das Gleiche. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb stellte ich innerlich auf Automatik, so wie ich es oft bei ihr tue. In meinem bewegungslosen Gesicht formten meine Lippen immer wieder die gleichen Antworten, während meine ausdruckslosen Augen starr auf den Verkehr gerichtet waren. Bis ich plötzlich mit folgender Frage aus meiner Lethargie gerissen wurde: „Guck mal, würdest du mit einem so braunen N…. fahren?“

Was soll ich sagen? Meine Mutter sagt, was sie denkt und sie denkt sich nichts dabei. Political Correctness: Fehlanzeige.

Ich hatte plötzlich wieder einen Gesichtsausdruck, aber mir fehlten die Worte und für eine Diskussion die Kraft. Und mir fehlten in diesem Moment meine Sphäre und meine Ordnung. Und während ich auch noch mit fehlender Vorfreude weiter durch die multikulturelle Gegend zu dem alkoholfreikulturellen Kaffeeklatsch fuhr, hielt ich mich mit meiner Lieblingsstrophe eines Gedichtes emotional über Wasser:

Meines Lebens Wunsch ist stiller Friede,
Guter Bücher eine kleine Zahl,
Ein geprüfter Freund mit einem Liede,
Und der Sparsamkeit gesundes Mahl.

Ziemlich schlechteste Freundinnen

In der Nachbarschaft meiner Mutter wohnte, solange ich denken kann, eine eingebildete, kinderlose Frau im gleichen Alter; sie war unerträglich, bildungsfern und zudem hinterhältig. In meiner Mutter hatte sie ein perfektes Opfer gefunden, nämlich einen Menschen, der anderen zwar gerne sagt, was diese tun oder lassen sollen, aber ansonsten harmlos ist. Meine Mutter ist nun einmal kein schlagfertiger Typ, sondern gerade heraus und entschuldigt sich am Ende noch, wenn sich jemand unverschämt oder beleidigend ihr gegenüber verhalten hat. Es kann vorkommen, dass sie die Person sogar noch vor anderen verteidigt. Das muss man nicht verstehen, ist aber so.

Je mehr sie sich gefallen ließ, desto schlimmer wurde sie von der Nachbarin behandelt. Leider war meine Mutter der Ansicht, dass sie jemanden in der Nachbarschaft bräuchte, und sah deshalb über deren Charakter hinweg. Man kann sagen, die beiden waren ziemlich schlechteste Freundinnen. Die Frau, nennen wir sie Elfriede, war Mitglied im »Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kultur« und so wurde auch meine Mutter dort Mitglied.

Dieser Verein veranstaltet regelmäßig gemütliche Treffen und Ausflüge. Als meine Mutter noch nicht lange dabei war, wurde zu einem sogenannten Kohl-und Pinkel-Essen eingeladen. In Norddeutschland ist das ein traditionelles Winter-Essen mit braun-gekochtem Grünkohl und fettiger Grützwurst (Pinkel), zu dem normalerweise Schnaps für die bessere Verteilung des Fettes ausgeschenkt und dieser auch fleißig runtergekippt wird.

So saßen die Frauen also in fröhlicher Runde und unterhielten sich angeregt. Meine Mutter dachte wohl nicht weiter darüber nach, in welcher Gesellschaft sie sich befand, jedenfalls bestellte sie ein kleines Alster, was Elfriede neben ihr sehr wohl mitbekam, aber nicht kommentierte.

Nachdem die Bedienung das kleine Bierglas direkt vor meiner Mutter abgestellt hatte, herrschte augenblicklich Totenstille im Saal. Alle Frauen starrten abwechselnd meine Mutter und das Bierglas an. Man hätte das Fallen eines Korkens in der Gaststätte hören können.

Während die erste Vorsitzende des Vereins meiner Mutter vor allen Anwesenden ganz ruhig erklärte, was alkoholfreie Kultur bedeutet, konnte sich Elfriede das Grinsen nicht verkneifen. Schadenfreude ist eben auch eine Freude. Schuldbewusst und peinlich berührt nahm meine Mutter das volle Bierglas und brachte es zur Theke zurück. Der Bedienung sagte sie: „Die haben gesagt, ich darf das nicht“, und ließ sich ein Mineralwasser bringen.

Seit diesem Vorfall bestellte sie nie mehr Alkohol, jedenfalls nicht in ihrer Frauenbund-Runde. Dafür ließen sich Elfriede und sie nach wie vor jedes Jahr von einem ambulanten Weinhändler mehrere Kartons mit Weinflaschen in ihre Keller liefern, ganz ohne schlechtes Gewissen. Warum auch, man muss doch etwas zum Verschenken im Haus haben. Erfahren sollte das aber niemand. Auch darüber, dass im Kühlschrank kleine »Kuemmerlinge« vor sich hin kümmerten und immer wieder durch neue ersetzt wurden, herrschte einvernehmliches Stillschweigen der beiden Alkoholfreikulturellen.

Wenigstens in dem Punkt funktionierte ihre Freundschaft.

Selbstgestrickte Verehrerabschreckung

Meine Mutter wollte schon immer allen sagen, wo es langgeht. Mich hatte sie auf diese Weise in meiner Entwicklung behindert und gestört, denn sie interessierte sich nicht für meine inneren Bedürfnisse, sie missachtete sie sogar oder zeigte Desinteresse. Mit konstruktiver Kritik hätte ich gerne gelebt. Ich hätte gerne das Gefühl gehabt, beachtet und geachtet zu werden, aber sie setzte Prioritäten zugunsten meiner nur unwesentlich älteren Brüder.

Es wäre wichtig für mich gewesen, einen starken Menschen als Mutter zu haben, der mir Halt gibt und zu dem ich aufschauen kann. Aber stattdessen ließ sie mich mehr oder weniger links liegen. Zeit, mir etwas vorzulesen oder mit mir zu lernen, nahm sie sich nicht. Stattdessen musste ich mir oft anhören, wie toll andere Kinder sind und was die alles können. Wollte sie mich damit motivieren? Dann ging der Schuss nach hinten los. Oder sollte ich künstlich klein gehalten werden, weil ich NUR ein Mädchen war? Wie gern hätte ich Ballett- und Klavierunterricht gehabt, aber dieser Wunsch wurde mit dem Argument vom Tisch gefegt, dass einer meiner Brüder bereits Klavierunterricht habe, ich könne Geige lernen. Ich hatte früh gelernt, nicht zu widersprechen, so lebte ich einfach vor mich hin. Ich kannte es nicht anders, hatte mich damit abgefunden und MEIN Ding gemacht.

Bei mir war alles irgendwie anders. Mit fünf Jahren schon fuhr ich ganz alleine mit der Straßenbahn und dem Bus zu meinen Großeltern. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln brauchte man gut und gerne eine Dreiviertelstunde. Meine Abwesenheit störte niemanden weiter. Ich wurde nicht vermisst, und daran änderte sich nichts.

Mit 16 Jahren wurde ich von anderen Jugendlichen gefragt, wann ich denn am Samstagabend zu Hause sein müsse. Interessante Frage, keine Ahnung, dachte ich. Ich lebte zwar im selben Haus wie meine Eltern und meine Geschwister, aber trotzdem in einer anderen Welt. Aber irgendwie war ich gar nicht so glücklich ohne Zeitlimit, wie andere sich das vorgestellt hatten; sie schienen mich dafür sogar zu beneiden. Wofür? Für Desinteresse? Oder dachten sie, dass meine Eltern besonders großzügig waren?

Mit 19 Jahren zog ich in eine andere Stadt und war dann mal weg.

Ab und zu kam ich für ein Wochenende nach „Hause“. Einmal im Winter war ich wieder zu Besuch und hatte mich mit einem tollen Typen verabredet. Wir wollten uns an der Straßenecke treffen. Als ich aus meinem Elternhaus kam, konnte ich schon sein Auto an der Kreuzung stehen sehen. Und er sah mich von Weitem die Straße entlang auf ihn zu gehen. Aber, oh Schreck lass nach, was war das? Im Schlepptau hatte ich plötzlich eine Frau, mit einer Mütze in der Hand. Ich konnte sie einfach nicht abwimmeln. Sie war lästig wie eine Herzhäuschen-Fliege. Immer wieder sagte ich, dass ich keine Mütze aufsetzen wolle. Erst kurz vor der Straßeneinmündung ließ meine mützenbewaffnete Mutter endlich von mir ab. Ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken, bin dann aber doch lieber in das wartende Auto gestiegen. Mein neuer Verehrer fragte ganz süffisant: „Wurdest du begleitet?“

Andere erleben so etwas im Schlaf und wachen schweißgebadet auf. Bei mir handelte es sich um einen realen Albtraum.

Das war nicht die einzige peinliche Situation, in die mich meine Mutter im Laufe meines Lebens gebracht hatte. Und jedes Mal fragte ich mich, warum sie sich aus dem Nichts heraus plötzlich um Angelegenheiten kümmerte, die ihr zuvor völlig unwichtig gewesen waren, und die ich selber sehr gut im Griff hatte. Schließlich war ich durch die „Erziehung“, die ich genossen hatte, schnell erwachsen geworden und brauchte keine Betreuung und keine Belehrung mehr. Der Zug war schon sehr früh abgefahren.

Ich sage auch heute immer mal wieder zu meiner Mutter: „ICH komme klar. Über MEIN Leben musst Du nicht nachdenken.“

Übrigens: Zum Zeitpunkt der Mützenattacke war ich bereits 26 Jahre. Heute bin ich 31 Jahre verheiratet – mit einem anderen tollen Typen – und trage freiwillig Mützen, wann es mir gefällt. Und diese Teile sind heute zum Glück so cool, dass sie sogar von jungen Männern im Sommer und Prominenten im Rampenlicht ertragen  ähh  getragen werden. Mode macht’s möglich. Wer hätte das damals gedacht.

Burn-out durch Tamtam

Von wegen, alles im Griff. Als wir neulich während der Oktoberfestzeit eine „Konserve“ schauten, klingelte es an der Haustür. Der Nachbar hatte schon angekündigt, dass er uns die geliehene Bohrmaschine zurückbringen wollte. Also stand mein Mann auf und ging zur Tür. Damit er nichts von „unserem“ Film versäumte, drückte ich auf die Pausetaste der Fernbedienung und geriet per Zufall in eine Volksmusiksendung.

Sie kam rüber, als würde hier Silvester und Karneval gleichzeitig gefeiert werden. Der Saal tobte und die Stimmung kochte. Als ich sah, wie die Zuschauer in den Rängen Pool-Nudeln, über ihren Köpfen zusammenschlugen, war ich unfähig, den Ausschaltknopf zu drücken. In Sachen Applaus scheint das der neueste Trend zu sein. Ich fragte mich allerdings, wo da das Klatsch-Geräusch der Hände herkam. Aber das war bestimmt zugemischt, wie in manchen amerikanischen Fernsehserien. Hauptsache, die Optik stimmt: grölende Zuschauer in überschäumender Begeisterung, prall gefüllte Dirndl-Kleider, Lichtkegel, Konfetti.

Ein Gottlieb-Wendehals-Nachfolger führte eine Polonaise an. Sein Markenzeichen, eine strähnige Perücke, die durch eine Art Ski-Sonnenbrille aufgepeppt wurde. Inzwischen weiß ich, dass er mit dem König von Mallorca, Jürgen Drews, „zusammenarbeitet“. Die beiden verstehen etwas von Remmidemmi und zehn nackten Friseusen. Ob diese Inflation der Stimmung noch steigerungsfähig ist?

Die Interpreten grinsen derart unnatürlich intensiv in die Kameras, dass man sich fragt, ob sie schon einen Gesichtsmuskel-Krampf haben oder kurz davor stehen? Es würde mich nicht wundern, wenn sich erste Patienten mit akuter Gesichtsmuskel-Zerrung durch Gaudi-Überdosis (mit oder ohne Hörsturz) in ärztliche Behandlung begeben würden. Und ich frage mich, ob einzelne Volksmusik-Interpreten schon eine Tournee abbrechen mussten wegen Burn-out durch Tamtam? Würde das überhaupt als Berufskrankheit anerkannt und gibt es dafür eine Art Berufsgenossenschaft?

Wenn ja, schlage ich folgende Reha-Angebote vor:
– Stimmung runterfahren. Es darf geflucht werden!
– Gesprächskreis: Lasse deinen inneren Miesepeter raus (Grimassen erlaubt)
– Wer bin ich? Von Everybody’s Darling zum Stimmungstöter.
– Authentisch dreinschauen in zehn Schritten bis zur Gesichtszug-Entgleisung
– Gesichtsmuskel-Entspannung auf Chi-Gong-Schlag
– Therapeutisches Boxen: Ihr könnt mich mal, ich haue in den Sack!
– Ernsthaft-Walking ohne Mienenverzug
– Lieber schlecht drauf als drunter und drüber
– LMA Meeting der anonymen Partyholics (Selbsthilfegruppe für Schunkel-Opfer)

Okay, ich weiß: Lachen ist gesund. Wenn man schlecht drauf ist, soll man sich im Spiegel anlächeln. Das Unterbewusstsein nimmt das Lächeln wahr, als hätte man einen Grund dazu, und schon ist man gut drauf. Soweit die Theorie.

Bei dieser Fernsehsendung heißt es allerdings, gute Laune, bis der Arzt kommt. Hier kann das Lachen nach hinten losgehen. Man sollte sich schon entscheiden, ob man den Verstand oder die Pool-Nudel-Show einschalten möchte. Beides geht nicht.