Meine Mutter wollte schon immer allen sagen, wo es langgeht. Mich hatte sie auf diese Weise in meiner Entwicklung behindert und gestört, denn sie interessierte sich nicht für meine inneren Bedürfnisse, sie missachtete sie sogar oder zeigte Desinteresse. Mit konstruktiver Kritik hätte ich gerne gelebt. Ich hätte gerne das Gefühl gehabt, beachtet und geachtet zu werden, aber sie setzte Prioritäten zugunsten meiner nur unwesentlich älteren Brüder.
Es wäre wichtig für mich gewesen, einen starken Menschen als Mutter zu haben, der mir Halt gibt und zu dem ich aufschauen kann. Aber stattdessen ließ sie mich mehr oder weniger links liegen. Zeit, mir etwas vorzulesen oder mit mir zu lernen, nahm sie sich nicht. Stattdessen musste ich mir oft anhören, wie toll andere Kinder sind und was die alles können. Wollte sie mich damit motivieren? Dann ging der Schuss nach hinten los. Oder sollte ich künstlich klein gehalten werden, weil ich NUR ein Mädchen war? Wie gern hätte ich Ballett- und Klavierunterricht gehabt, aber dieser Wunsch wurde mit dem Argument vom Tisch gefegt, dass einer meiner Brüder bereits Klavierunterricht habe, ich könne Geige lernen. Ich hatte früh gelernt, nicht zu widersprechen, so lebte ich einfach vor mich hin. Ich kannte es nicht anders, hatte mich damit abgefunden und MEIN Ding gemacht.
Bei mir war alles irgendwie anders. Mit fünf Jahren schon fuhr ich ganz alleine mit der Straßenbahn und dem Bus zu meinen Großeltern. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln brauchte man gut und gerne eine Dreiviertelstunde. Meine Abwesenheit störte niemanden weiter. Ich wurde nicht vermisst, und daran änderte sich nichts.
Mit 16 Jahren wurde ich von anderen Jugendlichen gefragt, wann ich denn am Samstagabend zu Hause sein müsse. Interessante Frage, keine Ahnung, dachte ich. Ich lebte zwar im selben Haus wie meine Eltern und meine Geschwister, aber trotzdem in einer anderen Welt. Aber irgendwie war ich gar nicht so glücklich ohne Zeitlimit, wie andere sich das vorgestellt hatten; sie schienen mich dafür sogar zu beneiden. Wofür? Für Desinteresse? Oder dachten sie, dass meine Eltern besonders großzügig waren?
Mit 19 Jahren zog ich in eine andere Stadt und war dann mal weg.
Ab und zu kam ich für ein Wochenende nach „Hause“. Einmal im Winter war ich wieder zu Besuch und hatte mich mit einem tollen Typen verabredet. Wir wollten uns an der Straßenecke treffen. Als ich aus meinem Elternhaus kam, konnte ich schon sein Auto an der Kreuzung stehen sehen. Und er sah mich von Weitem die Straße entlang auf ihn zu gehen. Aber, oh Schreck lass nach, was war das? Im Schlepptau hatte ich plötzlich eine Frau, mit einer Mütze in der Hand. Ich konnte sie einfach nicht abwimmeln. Sie war lästig wie eine Herzhäuschen-Fliege. Immer wieder sagte ich, dass ich keine Mütze aufsetzen wolle. Erst kurz vor der Straßeneinmündung ließ meine mützenbewaffnete Mutter endlich von mir ab. Ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken, bin dann aber doch lieber in das wartende Auto gestiegen. Mein neuer Verehrer fragte ganz süffisant: „Wurdest du begleitet?“
Andere erleben so etwas im Schlaf und wachen schweißgebadet auf. Bei mir handelte es sich um einen realen Albtraum.
Das war nicht die einzige peinliche Situation, in die mich meine Mutter im Laufe meines Lebens gebracht hatte. Und jedes Mal fragte ich mich, warum sie sich aus dem Nichts heraus plötzlich um Angelegenheiten kümmerte, die ihr zuvor völlig unwichtig gewesen waren, und die ich selber sehr gut im Griff hatte. Schließlich war ich durch die „Erziehung“, die ich genossen hatte, schnell erwachsen geworden und brauchte keine Betreuung und keine Belehrung mehr. Der Zug war schon sehr früh abgefahren.
Ich sage auch heute immer mal wieder zu meiner Mutter: „ICH komme klar. Über MEIN Leben musst Du nicht nachdenken.“
Übrigens: Zum Zeitpunkt der Mützenattacke war ich bereits 26 Jahre. Heute bin ich 31 Jahre verheiratet – mit einem anderen tollen Typen – und trage freiwillig Mützen, wann es mir gefällt. Und diese Teile sind heute zum Glück so cool, dass sie sogar von jungen Männern im Sommer und Prominenten im Rampenlicht ertragen ähh getragen werden. Mode macht’s möglich. Wer hätte das damals gedacht.