Freie Sicht auf „anständige“ O-Beine

In mein Elternhaus kam früher monatlich eine Schneiderin. Bevor ich geboren wurde, nähte sie für meine Großmutter oder kümmerte sich um die Zuschnitte für neue Kleider.

Es mag sein, dass sie in ihrer Jugend etwas von Mode verstand, also vierzig Jahre, bevor ich sie kennenlernte. Die Mode entwickelte sich jedoch weiter, im Gegensatz zu ihr. Man kann sagen, für sie war der Zug abgefahren und ich hatte deshalb nichts Abgefahrenes zum Anziehen.

Ich konnte sie nicht ausstehen. Ihre vorstehende wabbelige Unterlippe, die sie ständig zum Anfeuchten ihrer Finger und des Garns benutzte, hing herunter wie bei einem Kamel. Sie war hauptsächlich damit beschäftigt very geschmackvolle Kleider zu nähen oder alte, geerbte Kleidung irgendwie passend zu machen, hauptsächlich für mich. Meine Brüder wurden davon verschont. Damals wünschte ich, ich wäre ein Junge und möge dieses Kamel, ähh dieser Kelch an mir vorübergehen.

Den Begriff uncool gab es noch nicht, aber ich konnte ihn schon fühlen. Das zog sich durch bis zu meinem Secondhand-Konfirmationskleid. Ab dann trug ich hauptsächlich unanständige Jeans, die ich mir selber kaufte. Zur Finanzierung meines modischen Befreiungsschlags jobbte ich neben der Schule. Natürlich betätigte ich mich auch kreativ, um möglichst günstig über die Runden zu kommen.

Mein erstes T-Shirt hatte ich mir selbst kreiert, indem ich ein altes kurzärmeliges Herren-Unterhemd mit Knopfleiste enger genäht und dann gefärbt hatte. Dazu trug ich Lederbänder an Hals und Handgelenk und derbe Schnürboots, im Sommer Jesuslatschen. Meine Haare ließ ich einfach rechts und links von einem sogenannten Poposcheitel herunter wachsen. Mein Vater flippte zuerst aus und gab dann auf.

Er war der Meinung, dass ein anständiges Mädchen keine Hosen trägt, von Frauen ganz zu schweigen. Und weil es noch das Modediktat gab, zeigten damals alle anständigen Frauen ihre Beine. Egal ob dadurch Krampfadern, Wasseransammlungen, O-Beine oder dunkle, lange Haare kreuz und quer hinter den Nylonstrümpfen zu sehen waren und ob sie sich damit wohlfühlten.

Und als dann der Minirock in Mode kam, wurden die Röcke für alle Frauen etwas kürzer. Auch die Nachbarin, Elfriede, die sich meinen Vater als Liebhaber angeln wollte (aber das ist eine andere Geschichte), zeigte plötzlich ihre knochigen Knie. Was sollte daran anständig sein?

In den 1970er Jahren wurde der Minirock für junge Mädchen dann so unanständig kurz, dass er sehr unpraktisch und unbequem zu tragen war. Niemand konnte sich damit frei bewegen, geschweige denn bequem sitzen, was mit einer Hose jederzeit möglich ist. Ich habe mich immer gefragt, weshalb eine Hose, die definitiv weniger preisgibt als ein Rock, weniger anständig sein soll? Der schöne Begriff „anständig“ sollte für solche Aussagen nicht mehr missbraucht werden dürfen.

Heute kann FRAU so ziemlich alles tragen, was ihr gefällt. Neulich beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit waren viele Menschen aus dem öffentlichen Leben geladen. Leider saßen in der ersten Reihe Frauen, die wohl nicht berücksichtigt hatten, dass beim Sitzen mit einem engen Rock viel mehr Bein zu sehen ist, als beim Stehen. Für ein Date mag das perfekt sein, aber für offizielle politische Anlässe empfinde ich es international gesehen eher als unpassend und unnötig.

In der Politik heißt es doch immer, dass alle Seiten und alle Kulturen ein bisschen Annäherung anstreben sollten. Wen wollten manche Frauen mit ihren Beinen beeindrucken? Es gibt so viele anziehende Möglichkeiten zwischen bodenlangen Mänteln und Freier Sicht auf Oberschenkel. Dazu müssen die Frauen nicht auf jeden Mode-Zug aufspringen; sie können einfach das anziehen, was zu ihnen passt und ihnen steht.

Was mich betrifft, so lasse ich die inzwischen zahlreichen, kreuz und quer fahrenden Designer-Züge an mir vorbeirasen und bin trotzdem modisch unterwegs, ganz entspannt und bequem.

Ich habe meine Erfahrungen gemacht und weiß, dass High Heels genauso „bequem“ sind wie Miniröcke „anständig“. Und was ich gar nicht brauchen kann, sind offene Beine, auch nicht an den Hosenbeinen meiner Jeans. Manche Jeans sehen aus, als wären sie schon 10 Jahre mit anderen durch dick und dünn gegangen. Das muss ich nicht mehr haben. Ich war schon früher von Kopf bis Fuß mit Used-Klamotten im Vintage Stil eingekleidet. Modisch gesehen fünfzig Jahre zu früh, wie sich jetzt herausstellt. Heute kann mich dieser Oldtimer-Zug mal (überholen).

Ich habe schon viele Mode-Rivivels erlebt, Trends kommen und gehen gesehen. Deshalb nehme ich mir jetzt die Freiheit zu sagen: Hingucker um jeden Preis gehen mir am ”Bobbes“ vorbei, auch was die Frisur betrifft! Ein schiefer Pony stand mir schon früher nicht. Ich lasse mir lieber in der Natur den Wind um die Nase und meinen Lieblings-Haarschnitt schief wehen.

In meinem Alter kann man sich cool zurücklehnen, abwarten und Tee trinken!

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