„Maßlose“ Selbstheilungskräfte

Vor längerer Zeit hatte mein Mann Kniebeschwerden. Nach der verordneten Physiotherapie bildete sich (wie wir heute durch googeln wissen) eine sogenannte Bakerzyste unterhalb des Knies. Diese platzte und verursachte einen Bluterguss mit einer Schwellung im Unterschenkel. So etwas kommt so selten vor, dass unser offensichtlich nicht googelnder Hausarzt keine Diagnose stellen konnte und meinen Mann sicherheitshalber ins Krankenhaus überwies.

Das Krankenhaus ist ein katholischer Stift. Das merkt man daran, dass sie im Eingangsbereich eine sehr alte, etwas tüdelige Nonne herumlaufen lassen. Das hat irgendwie eine beruhigende Wirkung und lenkt etwas von den böse dreinschauenden und heutzutage so notwendigen Security-Männern ab. Wir saßen eine Ewigkeit in der Aufnahme und anschließend eine weitere Ewigkeit in einem Untersuchungsraum, der uns allein überlassen war. Wir hätten alles Mögliche darin anstellen können, mit dem ganzen Equipment.

Endlich erschienen zwei sehr nette und vor allem sehr, sehr junge Weißkittel-Träger, um sich das Bein anzusehen. Sie konnten ebenfalls keine Diagnose stellen, wollten aber für ihre Dokumentation nachmessen, wie viele Zentimeter das eine Bein dicker war als das andere. Es folgte die Aktion: Maßband verzweifelt gesucht! Strahlend flötete die junge Ärztin, sie müsse sich erst mal zurechtfinden, aber sonst würde es ihr hier sehr gut gefallen. Sie hätte hier gerade angefangen. Ihr Kollege, der ein klitzekleines bisschen älter war als sie, schien auch nicht mehr Betriebserfahrung zu haben und meinte, dies sei das Lehrkrankenhaus ihrer Universitätsklinik.

Sicherheitshalber wurde mein Mann als Patient aufgenommen und in die anthroposophische Station gelegt. Oder soll ich sagen abgelegt? Naturheilkunde, Alternativmedizin und Homöopathie würde einen dort erwarten verhießen die Ausstellungs-Gegenstände und Erläuterungen in einem Schaukasten, der neben der Stationstür stand.

In dem zugewiesenen Patientenzimmer lag bereits ein wortkarger Mann, der schlecht drauf war. Nach einem Alkohol-Unfall – was man auch immer darunter verstehen soll – hatten sie ihn am Bein operieren müssen und anschließend nur deshalb hier untergebracht, weil in der orthopädischen Station kein Bett mehr frei war.

Mein Mann fing sofort mit der ihm verordneten Therapie an: Das Bein 24 Stunden täglich hochlegen! Die Schwestern sollten dann regelmäßig nachmessen, ob sich etwas tat. Es tat sich tatsächlich etwas. Das Bein schwoll im Lauf der Tage ab, sogar ganz ohne dass jemals nachgemessen und dokumentiert wurde, denn in der Station gab es ebenfalls kein Maßband. Ich war drauf und dran eines von zu Hause mitzubringen, damit die Schwestern Messwerte für ihre Dokumentation vorzuweisen hätten. Aber in der anthroposophischen Medizin interessiert das anscheinend niemanden wirklich. Der Grundgedanke ist schließlich, dass die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert werden sollen. Wenn sie ganz von alleine aktiv werden, ist das natürlich noch besser – und genau das taten sie bei meinem Mann.

Der Krankenhausaufenthalt hatte nichts dazu beigetragen, zum Glück aber auch nicht geschadet. Mein Mann hätte sich immerhin Durchfall holen können, sogar ohne Norovirus. Denn auf seinem Nachtschrank lagen, statt der erwarteten homöopathischen Globuli, täglich zwei Medikamente, die er einnehmen sollte: Ein Mittel, dass die Magensäure unterdrückt und ein drastisches Abführmittel in Pulverform, dass auch vor Darmspiegelungen gegeben wird. Was soll ich sagen? Mein Mann konnte sich massive Magen-Darm-Beschwerden, sprich Appetitlosigkeit mit einhergehenden Bauchschmerzen und explosionsartigem Dünnpfiff im Abgang, ersparen, weil er mich angerufen hatte, bevor er die Sachen nehmen wollte. Man könnte auch sagen: „Schwein gehabt, ohne Gülle auf den Laken.“

Wie soll ein Patient bitteschön sein Bein 24 Stunden hochlegen können, wenn er dauernd zur Toilette rennen muss? Und wie hätten sich die Selbstheilungskräfte auf ein Knie konzentrieren sollen bei gleichzeitigen akuten Bauchschmerzen und ruinierter Darmflora?

Ich frage mich schon lange, warum jemand etwas gegen die so wichtige Magensäure im Magen unternehmen soll, obwohl er diesbezüglich völlig beschwerdefrei ist? Und warum jemandem ein Abführmittel gegeben wird, dessen Darm grundsätzlich eher zurückgepfiffen werden müsste? Werden solche Mittel nur verteilt, damit das Krankenhaus eine Medikation vorweisen kann und die Pharmaindustrie dadurch verdient? Gemäß dem Motto: Sodbrennen und Verstopfung gehen doch IMMER!

Und ich hätte auch gerne mal gewusst, was solche Medikamente in einer Naturheil-Station verloren haben? Abgesehen davon hätte man meinen Mann in jedem Fall vorher fragen müssen, ob er unter Sodbrennen und Verstopfung leidet!

Als ich auf den Korridor ging, um jemandem diese Fragen zu stellen, sah ich eine winzige, indische Nonne freundlich aber unsicher lächelnd einen riesigen Servierwagen vor sich herschieben. Sie war schätzungsweise ein Meter vierzig groß. Ihre Füße waren halb so lang wie die Schuhe, in denen sie langsam dahin schlurfte. Von hinten sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das in die Kleider und Schuhe ihrer Mutter geschlüpft war.

Als ich eine andere Schwester, die hinter einer Glasscheibe saß, ansprechen wollte, wehrte die sofort ab. Sie hätten im Moment sehr viel zu tun und überhaupt keine Zeit. Aha, dachte ich, in diese gottverlassene Station werden Schwestern mit Überlastungs-Symptomatik und Burn-out-Syndrom versetzt. Aber unter einer ganzheitlichen Medizin in vertrauensvoller Wohlfühl-Atmosphäre verstehe ich etwas anderes. Und ganz offensichtlich konnten die Verantwortlichen die Nerven der Schwestern auch noch nicht homöopathisch in den Griff bekommen.

Nachdem mein Mann nun ein paar Tage lang fleißig damit beschäftigt war sein Bein hochzulegen und sich gleichzeitig aktiv gegen die beiden Medikamente zu wehren, wurde er als geheilt entlassen, ganz ohne dass an ihm irgendwie herumgedoktert worden wäre. Das musste ein niedergelassener Orthopäde nachholen, indem er das Knie in seiner Praxis punktierte. Seitdem hat sich das Gelenk nicht mehr gerührt. Keine Angst, nicht in Bezug auf Gehen oder Fahrradfahren, sondern in Bezug auf Beschwerden. Also Ende gut alles gut.

Hätten die mir von der Krankenkasse einen Fragebogen geschickt, wie man die manchmal bekommt, wenn es irgendwo um die Kundenzufriedenheit geht, hätte ich geschrieben: Außer Spesen nichts gewesen!

Hier noch heißer Tipp für Klinikmanager: Ich empfehle jedem Krankenhaus sich eine anthroposophische Station einzurichten. Das ist ein Selbstläufer, der so ganz nebenbei etwas einbringt.

Superman mit Installationshintergrund

Nachdem nun das Essen vom Feinkostladen an der Ecke täglich „anrollt“ und meine Mutter von dem netten Türken und seinen Kochkünsten offenbar begeistert ist, hege ich nun die berechtigte Hoffnung, dass bei meiner Mutter die nächste Festung fällt, und zwar die Hausmeister-Abwehr-Festung.

Wir hatten vor zwei Jahren für sie und ihr großes Haus einen Hausmeister engagiert. Er sollte auf „Zuruf“ kommen und meine Mutter auf diese Weise entlasten. Aber sie will lieber selbst im Dunkeln Schnee fegen. Ihres Erachtens bräuchte sie keine Hilfe, wo sie doch noch alles alleine könne. Sie benimmt sich wie ein kleines Kind. „Alleine“ war höchstwahrscheinlich ihr erstes Wort, als sie zu sprechen begann. Schade, dass ich meine Oma nicht mehr danach fragen kann.

Dann setzte meine Mutter noch einen drauf und meinte, der Hausmeister könne sowieso nichts. Gut, einen Installations-Hintergrund schien er wirklich nicht zu haben. Denn nachdem er einen Wasserhahn repariert hatte, musste doch noch einmal ein Klempner kommen und sich der Sache als Fachmann annehmen. Aber sonst machte er seine Arbeit gut.

Trotzdem ließ meine Mutter kein gutes Haar an ihm. Sie quakte weiter, dass ihr der Hausmeister nicht gefallen würde und sie ihn nicht ausstehen könne. Außerdem wäre er „lahmarschig“. Letzteres kann ich nicht beurteilen, denn meistens treffe ich ihn nicht persönlich. Bisher sah ich ihm nur einmal bei der Arbeit zu. Da ging er vor mir in die Hocke und ich war urplötzlich mit einem üppigen Maurer-Dekolleté konfrontiert. Diskret sah ich zur Seite und mich deshalb heute noch außer Stande seine Arbeitsgeschwindigkeit zu beurteilen.

Nachdem meine Mutter weiterhin bei jeder Gelegenheit betonte, dass ihr der  Hausmeister nicht gefällt, bot ich ihr an, nach einem „schönen“ Exemplar dieser Gattung Ausschau zu halten. Ich machte ihr aber keine großen Hoffnungen. Denn wenn es tatsächlich einen Hausmeister vom Typ „Superman mit Installationshintergrund“ geben sollte, würde der mit Sicherheit nicht in ihrem außergewöhnlichen Anwesen anfangen wollen. Als ich ihr das schonend beibrachte, sagte mir ihr verstehendes Lächeln:

„Die Hoffnung stirbt zuletzt!“

Wer nicht will, der hat!

In den letzten Jahren lehnte es unsere Mutter immer kategorisch ab, sich Essen auf Rädern „anrollen“ zu lassen. Aber nach ihrer Operation vor zwei Jahren probierten wir diesen Service einfach aus. Wir bestellten ihr für eine Woche fertige Menüs, sodass sie täglich versorgt wurde. Die Bezeichnung „Essen auf Rädern“ wurde von uns aus psychologischen Gründen tunlichst vermieden – von der Firma auch, denn sie warb mit einem „Menü Lieferservice“. Ich weiß nicht, ob die Mahlzeiten so gut geschmeckt hatten, wie sie auf den Fotos aussahen. Unsere Mutter wollte sie jedenfalls nie wieder haben und behauptete selbstbewusst, sie würde sich täglich selbst Essen kochen.

Anderthalb Jahre später nutzten meine Schwester und ich die Gunst der Stunde für einen zweiten Versuch. Wir waren wieder einmal gemeinsam eine ganze Woche durchgehend bei unserer Mutter zu Besuch. Über diese kostbare Zeit mit ihren Töchtern ist sie immer überglücklich. Wir unterhalten uns dann über Gott und die Welt, unternehmen etwas, schauen uns Fotos an … Wenn sie immer und immer wieder die gleichen Fragen stellt,  schalten wir beim Antworten auf „Automatik“. So ist und bleibt es harmonisch. Und wir essen natürlich zusammen.

Das war für uns DIE Gelegenheit ihr zu demonstrieren, wie gut man das Essen vom Lieferservice genießen kann. Um ja keinen Fehler zu machen, probierten wir einen anderen Anbieter. Der Name „Landhausküche“ klang auch sehr viel besser als der erste. Meine Schwester und ich hatten uns nun also freiwillig als Versuchskaninchen für eine einwöchige Testreihe zur Verfügung gestellt.

Gemeinsam mit unserer Mutter aßen wir uns durch die aktuelle Speisekarte, indem wir uns täglich drei verschiedene Gerichte liefern ließen. Was soll ich sagen? Bei jedem Menü standen sich Geschmack und Konsistenz auf der einen Seite und der Anbietername auf der anderen Seite umgekehrt proportional gegenüber. Im Grunde waren die in Plastik verpackten Portionen in den Garwägen „verkocht“ worden. Wir mussten unserer Mutter Recht geben und hörten damit auf, ihr ein warmes „Essen auf Rädern“ zu empfehlen. Immer gemäß ihres eigenen Mottos: Wer nicht will, der hat! 

Aber seit Kurzem spürt unsere Mutter, dass ihre Kräfte schwinden. Ihr ist klar geworden, dass sie gar nichts mehr kocht und sich im weitesten Sinne nur noch von Brot und Joghurt ernährt. Ist die Zeit nun reif für einen Lieferservice? Wir nutzten sofort die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Meine ökoangehauchte Schwester, die sich ohnehin immer über zu viel Plastik im Alltag aufregt, hatte sofort eine Idee. „Wir können doch den Mittags-Tisch-Lieferservice vom türkischen Feinkostladen an der Ecke nutzen. Dann kommt das Essen auf einem Porzellanteller und wird nicht drei Stunden durch die Gegend gefahren.“ Als ich unsere Mutter auf diese geniale Lösung vorbereiten wollte, traute ich meinen Ohren nicht: „Nein das will ich nicht!
Ich will Essen auf Rädern!“