Es wurde Zeit, dass meine Mutter höhergestuft wurde, und zwar im Pflegegrad. Der Pflegedienst riet mir dringend dazu, den entsprechenden Antrag zu stellen. Das tat ich und erhielt einen Termin zur Begutachtung. Die Gutachterin des Medizinischen Dienstes wollte zwischen 8 und 10 Uhr zu meiner Mutter kommen, um sich ein Bild von ihr zu machen. Als ich um fünf vor acht eintraf, kam sie mir entgegen – also nicht meine Mutter, sondern die Gutachterin – und meinte genervt: „Die will das nicht.“
Was hatte die Dame erwartet, wenn sie nicht auf mich wartet, dachte ich nur. Natürlich gefällt meiner dementen Mutter nicht, dass eine fremde Frau in ihr Haus kommt. Für sie ist es schon unangenehm, dass mehrmals täglich jemand vom Pflegedienst kommt, selbst wenn es immer dieselbe Person wäre.
Ich stellte mich der Gutachterin vor und bat sie um einen zweiten Anlauf. Erleichtert willigte sie ein und steuerte direkt auf die Küche zu. Dort saß meine Mutter wie ein bockiges Kind mit nassem Haar am Küchentisch. Hinter ihr stand die Dame vom Pflegedienst mit dem Föhn in der Hand, vor ihr ein Frühstücksschälchen und eine Großpackung Cornflakes – das derzeitige Lieblingsfrühstück meiner Mutter. Die Tatsache, dass der Fußboden unter ihr übersäht war mit den knusprigen Flocken, ließ erahnen, wie sie drauf war.
Ich weiß nicht, wie die Pflegerin es endlich mal wieder hinbekommen hatte, meiner Mutter den “Kopf zu waschen“. Aber warum musste es ausgerechnet heute sein? Schließlich sollte der Medizinische Dienst doch den täglichen Wahnsinn erleben, oder?
Hinzu kam, dass ich es vor Kurzem geschafft hatte, meiner Mutter mit viel Zureden die Haare wenigstens im trockenen, oder sollen wir sagen fettigen Zustand, zu schneiden. Dieser Kombination war es zu verdanken, dass jetzt beim Föhnen doch tatsächlich eine Art Frisur mit seidigem Glanz zum Vorschein kam. Unter dem silbrig schimmernden Pony funkelten mich zwei Augen vorwurfsvoll an: „Hast Du die Frau bestellt?“
Ich versuchte, meiner Mutter zu erklären, dass es bei diesem Besuch nur um eine Höherstufung des Pflegegrades und damit um mehr Geld von der Pflegeversicherung ging. Aber sie hörte gar nicht zu, denn inzwischen war sie voll und ganz damit beschäftigt, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Während die Gutachterin vor ihrem Laptop saß und Fragen stellte, lief meine Mutter zur Höchstform auf. Sie könne alles alleine, zu hundert Prozent, gab sie zu Protokoll. Mir fiel die Kinnlade runter und ich schaute sie mit offenem Mund fragend an. Da wurde sie etwas nachdenklich und räumte einen Abzug ein: „Na ja, sagen wir achtzig Prozent.“ Um das noch zu untermauern, zählte sie auf, was sie so alles täte:
Sie würde täglich Treppen steigen und bräuchte kaum einen Stock oder Rollator. Sie würde auch noch selbst einholen, also einkaufen gehen. Wenn sie es mal nicht schaffte, würde sie bei Edeka anrufen und alles bestellen. Sie könne auch selbst kochen. Ich bekam schnell zu spüren, dass es keinen Zweck hatte, ihr zu widersprechen, denn das spornte sie nur noch mehr an und ließ mich wie eine Schwindlerin dastehen.
Die Gutachterin forderte sie auf, ein paar Schritte zu gehen. Ohne lange zu zögern, stand meine Mutter trotz ihres Hüftschadens, der derzeit nicht operiert werden kann, auf. Mit wild entschlossenem Blick steuerte sie auf die Küchentür zu, wo sie sich unauffällig am Türgriff festhalten konnte. Dann peilte sie ihren Relaxsessel im Wohnzimmer als Ziel an. Der war jedoch etwas weiter entfernt. Auf dem Weg dorthin registrierte sie offenbar verschiedene Hindernisse, die sie dann auch gleich nutzte. Zuerst hangelte sie sich am Esstisch entlang, dann gaben nacheinander zwei Stühle willkommene Stützen ab. Von dort aus war es nicht mehr weit zum Sessel. Zwei kurze Schritte und sie hatte es geschafft. Triumphierend ließ sie sich in den Sessel plumpsen.
Na, prima, dachte ich, wenn ich meine Mutter alleine besuche, treffe ich meistens auf einen lahmen Struwwelpeter – vom Suppenkasper ganz zu schweigen. Musste sie ausgerechnet heute einen gepflegten und mobilen Eindruck machen? Aber es kam noch besser.
Warum ihr niemand Bescheid gesagt hätte, dass heute Besuch käme, fragte sie energisch. Ich sagte ihr, dass sie in ihren Kalender schauen könne, dort wäre der Termin vermerkt. Meine Mutter schaute nach und ich bereute augenblicklich, den verfluchten Kalender erwähnt zu haben, denn an diesem Tag war zusätzlich ein Name eingetragen. Es war der Name ihres alten Klassenkameraden und sie erzählte, dass sie demnächst zum Klassentreffen gehen wolle. Autsch! – das war kontraproduktiv für das Gutachten. Die Gutachterin könnte den Eindruck gewinnen, dass sie eine gepflegte alte Dame vor sich hatte, die noch in der Lage war, an einem Klassentreffen teilzunehmen.
Meine Mutter bekommt tatsächlich noch von einer entfernten ehemaligen Klassenkameradin Einladungen zu einer Art Klassentreffen. Sie will jedoch seit Jahren nicht mehr teilnehmen, obwohl ich sie hinfahren und wieder abholen würde. Vielleicht ist es auch besser so, wenn ich noch an ein Treffen der ehemaligen Wassergymnastikgruppe denke, zu dem ich sie gefahren hatte. Damals saß meine Mutter mit einer einzigen ehemaligen Wasserratte am Tisch, die nicht nur wesentlich jünger und stark geschminkt, sondern noch dazu eine Quasselstrippe vor dem Herrn war. Sonst war niemand zu dem Treffen erschienen. Eine Art „Tee for two“ zum Abgewöhnen. Als ich meine Mutter abholen wollte, setzte ich mich als Verstärkung dazu, was den Redefluss der schillernden Pool-Nixe noch befeuerte. Ihr kunstvoll umrandetes Mundwerk stand nicht still, bis wir uns unter einem Vorwand verabschiedeten.
Ich denke, dass zu einem Klassentreffen kaum mehr Teilnehmer zu erwarten wären, und das hat folgende Gründe. Fast alle ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler weilen entweder nicht mehr unter uns oder in einer Altersresidenz, wo sie in diesem Jahr ihren neunzigsten Geburtstag begehen – dass muss man jetzt aber nicht wörtlich nehmen. Im Dezember ist es bei meiner Mutter soweit. Sie plant bereits, was ich sehr begrüße, denn die Vorfreude ist bekanntlich die beste Freude.
Wer weiß, was uns erwartet in dieser Corona-Krise? Der neunzigste Geburtstag könnte auf eine Art „Dinner vor one“ hinauslaufen – mit Abweichungen natürlich. Ich sehe mich bereits als alkoholfreien Butler mit Mundschutz. A wonderful party ist was anderes. In jedem Fall wird bei uns, ähnlich wie in dem Sketch, auch immer dasselbe gefragt und geantwortet. „The same procedure as last year“ wäre es für meine Mutter allerdings nicht, denn wir hatten letztes Jahr mit der Familie gefeiert. Und das war bei Weitem nicht so lustig wie bei Miss Sophies großem Tag. Aber sehen wir es mal so: Miss Sophie, die Ärmste, hatte offensichtlich keine Familie. Meine Mutter hat immerhin vier Kinder, sieben Enkel und drei Urenkel, und es gibt die segensreiche Erfindung des Telefons.
Apropos: Täglich fragt unsere Mutter am Telefon, welchen Tag wir heute hätten. An dem besagten Prüfungstag des Medizinischen Dienstes tat es die Gutachterin. Voll ertappt ließ meine Mutter nachdenklich ihren Blick schweifen, bis er auf die Tageszeitung fiel, die vor ihr lag. Dort konnte sie, wie ein Schüler ”unauffällig“ abgucken. Super! Es schien alles ”prima“ zu laufen für sie. Um bei dieser Prüfung noch besser abzuschneiden, gab sie auf Anfrage an, dass es ihr IMMER gut ginge und sie eine eiserne Gesundheit hätte. Schmerzen? Damit hätte sie KEIN Problem. Im Geiste verabschiedete ich mich bereits vom Pflegegrad vier.
Als die Gutachterin gegangen war, fand ich die ausgeschnittene Todesanzeige des besagten Mitschülers unter dem Kalender. Das war also der Grund für den Eintrag gewesen. Zu spät! Irgendwie schien sich alles gegen eine Höherstufung verschworen zu haben.
Der ”Zwischenfall“ mit dem Medizinischen Dienst war schnell vergessen und eine angeblich verschwundene Nagelfeile rückte in den Fokus meiner Mutter. „Die hat bestimmt jemand mitgenommen,“ meinte sie, „hier gehen so viele Leute ein und aus“. Ich sagte ihr, dass sie sich nichts auf ihre alte Saphirfeile einzubilden bräuchte. Heute bevorzugt man Glasfeilen, die niemals stumpf werden. Und damit wieder Ruhe einkehrte und meine Mutter beschäftigt war, machte ich mich auf die Suche und fand das antike Teil schließlich in der Küchenschublade. Die Feile hatte eindeutig bessere Zeiten gesehen. Die Saphirsplitter hatten sich größtenteils aus dem Staub gemacht, genau wie die Gutachterin, die nun leider nicht mehr miterleben konnte, wie ihr Prüfling in sich zusammensackte und im Grunde wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte.
Als meiner Mutter später bewusst wurde, worum es bei dem Gutachten gegangen war, fing sie an zu weinen. Sie begriff, dass es besser gewesen wäre, sich nicht so zusammenzureißen. Ich fragte sie, wie sie das überhaupt geschafft hatte. Die Antwort entsprang ihrem Gedicht-Repertoire. Es berührte mich sehr, als sie zitierte:
Ich will, das Wort ist mächtig,
Spricht es einer ernst und still;
Die Sterne reißt‘s vom Himmel,
Das eine Wort: Ich will!
Ja, des Menschen Wille ist sein Himmelreich; und der Wille vermag Sterne vom Himmel zu reißen, aber die Pflegegrad-Erhöhung hat er zum Glück nicht verhindert, wie mir später schriftlich mitgeteilt wurde.
Ende gut – alles nicht! Oder? Wie auch immer, mit dem passenden Pflegegrad werden wir die Ur-Oma schon schaukeln.