Wundschutz mit Altkleider-Beimischung

Am Freitag bin ich geboostert worden – mit Moderna. Modern war auch das Pflaster, das anschließend aufgeklebt wurde, und zwar vom Doktor höchstpersönlich: gräulich mit deutlichen Einschlüssen von dunklen Fasern – nicht der Arzt, sondern das Pflaster! Frau kann sagen, ein Markenprodukt mit Altkleider-Beimischung. Gewissermaßen Plünnenplast statt Hansaplast!

Das nenne ich Nachhaltigkeit. Denn das graumeliert, fusselige Pflaster hat tatsächlich was gebracht. Allein durch die gewöhnungsbedürftige Optik riss sich mein Arm zusammen und zog es vor, diesmal nicht anzuschwellen. Also, geht doch!

Der hippe Wundschutz ist übrigens, wie fast alle Produkte aus recyceltem Material teurer als herkömmliche Pflaster. Aber was soll’s, das hatte ich mir verdient, wenn man bedenkt, wie viel Material ich in letzter Zeit in die Altkleidersammlung gegeben habe!

Der Arzt lebt sicher nach dem Motto: Ein kleiner Schritt für die Umwelt, aber ein gewaltiger Sprung für das Gewissen! Wie dem auch sei, ich konnte mir jedenfalls nicht verkneifen dieses unansehnliche Pflaster als Andenken in meinen Kalender zu kleben. Wie heißt es so schön: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Von mitgebrachten „Knarren“ und „geschmeidigen“ Pausen

Wenn ich meine Mutter besuche, bringe ich ihr immer Lebensmittel mit und besorge Fisch für uns zum Mittagessen. Dieses Mal hatte ich aber auch noch eine „Knarre“ von meinem Mann dabei. Nicht was Sie jetzt denken. Meine Mutter hatte sich zwar bei meinem letzten Besuch beschwert, dass der Fisch nicht nach Fisch schmecken würde – was ja eindeutig für den Fischhändler spricht – , aber das ist für mich noch kein Grund jemanden auf diese Weise zum Schweigen zu bringen.

Nein, ich brauchte den Akkuschrauber, um den Relaxsessel wieder „klapptüchtig“ zu machen. Der freundliche Servicemitarbeiter hatte mir erklärt, wie und wo ich das Ersatzteil anbringen sollte. Und das wollte ich nach dem Mittagessen auch gleich erledigen. Vorher musste ich erst einmal den Sessel auf den Kopf stellen, dann die alten Schrauben von dem defekten Relaxsessel-Teil lösen, um sie mit dem neuen Teil wieder anzubringen.

Während meiner Reparaturarbeiten erhielten die Füße meiner Mutter ein Fußbad. Dadurch hatte ich wenigstens die Gewähr, dass mir keiner ins Handwerk pfuschen konnte, zumindest nicht „handgreiflich“, denn verbal lief meine Mutter zur Hochform auf, stellte ständig die selben Fragen und wollte mich von meinem Vorhaben abbringen.

Es kam mir so vor, als würde mein Gehirn von der Dauerbefragung langsam einweichen, genauso wie die Füße meiner Mutter in der Wasserschüssel. Aber, was soll ich sagen, ich habe die Reparatur trotzdem hinbekommen.

Danach stand die Pediküre auf dem Besuchsprogramm. Obwohl ich die Füße mit einem Frotteehandtuch trocken rieb, das durch ungefähr fünfzig Jahre Vollwaschgang bretthart wie ein Reibeisen war, juchzte meine Mutter immer wieder, dass es kitzeln würde. Und jedes Mal, wenn ich dazu ansetzen wollte, die Nägel zu bearbeiten, schrie sie ängstlich auf wie ein Kind.

Zwischendurch musste sie auch noch dringend auf die Toilette, weil sich die billigen Süßigkeiten, die ihre Haushaltshilfe leider immer wieder anschleppt und die meine Mutter während der Sesselreparatur heimlich in sich reingestopft hatte, einfach nicht mit dem Fisch vertragen wollten. Das hieß für mich, dass ich die Füße mehrfach unter lautem Juchzen abtrocknen musste. 

Das Ende vom Lied: Der Stuhl lief wie geschmiert, genau wie der Durchfall meiner Mutter, und die Füße waren vom vielen harten Rubbeln samtweich wie ein Babypopo. Und das Ganze, ohne dass ich eine weiche Birne bekommen hatte, zumindest nicht dauerhaft. Oder? Ich bin mir nicht mehr sicher. Ich weiß nur: Ich bin urlaubsreif. Dänemark, ich komme!

Die Tante, die vom Himmel fiel

Mein Vater hatte keine Geschwister und meine Mutter nur einen Bruder, folglich hatte ich keine echte Tante. Doch der Himmel schien ein Einsehen zu haben und schenkte mir einen Ersatz – MEINE Tante Christa aus Hamburg. Sie war eine Schulfreundin meiner Mutter und ich durfte oft in den Ferien mit dem Zug zu ihr fahren und eine Woche bei ihr und ihrer Familie leben. Diese Besuche waren die Highlights meiner Kindheit. Bei ihr fand ich es einfach wunderbar. Alles war so anders, so besonders und so modern. Das war Ende der 1960er-Jahre und ich kam mir jedes Mal so vor, als sei ich in einem Doris-Day-Film aus Hollywood.

Wenn der Zug in den Hamburger Hauptbahnhof einlief, stand sie am Bahnsteig, um mich abzuholen. Aber MEINE Doris Day hatte keine wasserstoffblondierte Beton-Frisur und angeklebte Wimpern, sondern ein Band im Haar und ein Hauch Perlmutt-Schimmer auf den Lippen. Sie war nun mal eine Naturschönheit mit Stil und unaufdringlicher Eleganz. So nahm sie mich in Empfang und wir fuhren mit ihrem VW Käfer und meinem kleinen Koffer zu ihr nach Hause – für mich in eine andere, eine wunderschöne Welt.

Wer Tante Christas riesiges Wohnzimmer betrat, konnte sofort sehen, dass sie einen Vogel hatte; dass dieser bei uns geschlüpft war, ist dabei Nebensache. Dieser kleine Kanarienvogel hatte mit dem Umzug nach Hamburg jedenfalls das große Los gezogen, denn bei meiner Tante durfte er die meiste Zeit frei  im Raum herumfliegen. Fröhlich zwitscherte er vom Bücherregal herunter, auf dem für ihn täglich frisches Zeitungspapier ausgelegt wurde. Die neusten Nachrichten? Drauf gepfiffen! Sein kleines Gemüt blieb jedenfalls ungetrübt vom Schmerz dieser Welt. Und so flog er ganz unbeschwert ab und zu in sein kleines Restaurant mit Wellnes-Badeabteilung, das die Menschen Vogelbauer nennen.

Meine Tante Christa mochte Tiere, interessierte sich aber besonders für die Pflanzenwelt. Ich glaube, sie konnte jedes Kraut mit dem Namen ansprechen, auch mit der botanischen Bezeichnung. Wenn andere Leute Fernsehen schauten, las sie in Botanikbüchern. Ich kenne niemanden, der sich besser mit Pflanzen auskannte als sie – auch mit Pilzen. Bei ihr brauchte man keine Angst vor einer Pilzvergiftung zu haben, sie kannte alle heimischen Pilze.

In meiner Kindheit hatten wir sie oft mit der ganzen Familie in der Lüneburger Heide besucht – nicht die Pilze, sondern meine Tante. Sie hatte dort nämlich ein Wochenendgrundstück. Während unserer gemeinsamen Spaziergänge im Spätsommer und Herbst sammelte sie mit sachkundigem Blick alle essbaren Pilze, die ihr in die Finger kamen, um sie später in der Pfanne zu braten und daraus eine leckere Mahlzeit zu zaubern. So etwas Köstliches hatte ich vorher noch nie gegessen – und nachher auch nicht, wenn ich ehrlich bin.

Auch das Fondue-Essen hatte ich bei meiner Tante Christa kennengelernt. Wir saßen alle um ihren großen, runden Esstisch herum, vor uns große Teller mit Einteilungen, lange Spießchen mit Widerhaken und Schälchen mit unterschiedlichen Soßen und Zutaten. Neben akkurat geschnittenen Fleischstückchen gab es z. B. winzige Maiskolben. Ich bekam den Mund nicht mehr zu vor lauter staunen. Das änderte sich erst, als ich die ersten Bissen probieren durfte. Ich war begeistert.

Danach zeigte uns meine Tante Christa auf einer Leinwand kurze Super-Acht-Filme, die sie mit ihrer kleinen Handkamera selber gedreht hatte, u. a. während ihrer USA Reisen. Ich war einfach fasziniert davon, was sie alles konnte und was sie alles kannte.

Was sie noch liebte, waren Boxer, aber nicht die Zweibeiner, die k. o. im Seil hängen, sondern die Vierbeiner, die sie am Seil durch ihre geliebte Natur führen konnte. Ja die beiden Hunde, die im Laufe ihres Lebens an ihrer Seite standen und liefen, hatten sie ganz schön auf Trab gehalten oder sie die Hunde? Wie auch immer – Tante Christas Kilometerstand dürfte beachtlich sein.

Und nicht nur ihr Kilometerstand. Meine taffe, tolle Tante hatte gerade ihren 90sten Geburtstag und ich durfte diesen großen Tag mit ihr feiern. Wie früher fuhr ich mit dem Zug nach Hamburg. Sie holte mich zwar nicht vom Bahnsteig ab und wir fuhren auch nicht mit ihrem VW-Käfer, aber als ich ihr großes Haus betrat, stiegen sofort die schönen Kindheitserinnerungen in mir auf. Mein Herz quoll förmlich über – genauso wie ihr Haus.

Meine Tante Christa kann sich nun mal schlecht von Sachen, welcher Art auch immer, trennen. Und warum sollte sie auch. Ich schätze, die Lagerkapazität ihres Hauses dürfte, selbst unter Berücksichtigung der Sammelleidenschaft einzelner Familienmitglieder, noch ungefähr bis zu ihrem hundertsten Geburtstag reichen. Und den kann man ihr ruhig wünschen, denn sie hat nicht nur drei Töchter und drei Enkel an ihrer Seite, sondern ist auch nach wie vor eine gastfreundliche, aparte und interessierte Persönlichkeit.

Wenn Hindernisse zum Ziel führen

Es wurde Zeit, dass meine Mutter höhergestuft wurde, und zwar im Pflegegrad. Der Pflegedienst riet mir dringend dazu, den entsprechenden Antrag zu stellen. Das tat ich und erhielt einen Termin zur Begutachtung. Die Gutachterin des Medizinischen Dienstes wollte zwischen 8 und 10 Uhr zu meiner Mutter kommen, um sich ein Bild von ihr zu machen. Als ich um fünf vor acht eintraf, kam sie mir entgegen – also nicht meine Mutter, sondern die Gutachterin – und meinte genervt: „Die will das nicht.“

Was hatte die Dame erwartet, wenn sie nicht auf mich wartet, dachte ich nur. Natürlich gefällt meiner dementen Mutter nicht, dass eine fremde Frau in ihr Haus kommt. Für sie ist es schon unangenehm, dass mehrmals täglich jemand vom Pflegedienst kommt, selbst wenn es immer dieselbe Person wäre.

Ich stellte mich der Gutachterin vor und bat sie um einen zweiten Anlauf. Erleichtert willigte sie ein und steuerte direkt auf die Küche zu. Dort saß meine Mutter wie ein bockiges Kind mit nassem Haar am Küchentisch. Hinter ihr stand die Dame vom Pflegedienst mit dem Föhn in der Hand, vor ihr ein Frühstücksschälchen und eine Großpackung Cornflakes – das derzeitige Lieblingsfrühstück meiner Mutter. Die Tatsache, dass der Fußboden unter ihr übersäht war mit den knusprigen Flocken, ließ erahnen, wie sie drauf war.

Ich weiß nicht, wie die Pflegerin es endlich mal wieder hinbekommen hatte, meiner Mutter den “Kopf zu waschen“. Aber warum musste es ausgerechnet heute sein? Schließlich sollte der Medizinische Dienst doch den täglichen Wahnsinn erleben, oder?

Hinzu kam, dass ich es vor Kurzem geschafft hatte, meiner Mutter mit viel Zureden die Haare wenigstens im trockenen, oder sollen wir sagen fettigen Zustand, zu schneiden. Dieser Kombination war es zu verdanken, dass jetzt beim Föhnen doch tatsächlich eine Art Frisur mit seidigem Glanz zum Vorschein kam. Unter dem silbrig schimmernden Pony funkelten mich zwei Augen vorwurfsvoll an: „Hast Du die Frau bestellt?“

Ich versuchte, meiner Mutter zu erklären, dass es bei diesem Besuch nur um eine Höherstufung des Pflegegrades und damit um mehr Geld von der Pflegeversicherung ging. Aber sie hörte gar nicht zu, denn inzwischen war sie voll und ganz damit beschäftigt, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Während die Gutachterin vor ihrem Laptop saß und Fragen stellte, lief meine Mutter zur Höchstform auf. Sie könne alles alleine, zu hundert Prozent, gab sie zu Protokoll. Mir fiel die Kinnlade runter und ich schaute sie mit offenem Mund fragend an. Da wurde sie etwas nachdenklich und räumte einen Abzug ein: „Na ja, sagen wir achtzig Prozent.“ Um das noch zu untermauern, zählte sie auf, was sie so alles täte:

Sie würde täglich Treppen steigen und bräuchte kaum einen Stock oder Rollator. Sie würde auch noch selbst einholen, also einkaufen gehen. Wenn sie es mal nicht schaffte, würde sie bei Edeka anrufen und alles bestellen. Sie könne auch selbst kochen. Ich bekam schnell zu spüren, dass es keinen Zweck hatte, ihr zu widersprechen, denn das spornte sie nur noch mehr an und ließ mich wie eine Schwindlerin dastehen.

Die Gutachterin forderte sie auf, ein paar Schritte zu gehen. Ohne lange zu zögern, stand meine Mutter trotz ihres Hüftschadens, der derzeit nicht operiert werden kann, auf. Mit wild entschlossenem Blick steuerte sie auf die Küchentür zu, wo sie sich unauffällig am Türgriff festhalten konnte. Dann peilte sie ihren Relaxsessel im Wohnzimmer als Ziel an. Der war jedoch etwas weiter entfernt. Auf dem Weg dorthin registrierte sie offenbar verschiedene Hindernisse, die sie dann auch gleich nutzte. Zuerst hangelte sie sich am Esstisch entlang, dann gaben nacheinander zwei Stühle willkommene Stützen ab. Von dort aus war es nicht mehr weit zum Sessel. Zwei kurze Schritte und sie hatte es geschafft. Triumphierend ließ sie sich in den Sessel plumpsen.

Na, prima, dachte ich, wenn ich meine Mutter alleine besuche, treffe ich meistens auf einen lahmen Struwwelpeter – vom Suppenkasper ganz zu schweigen. Musste sie ausgerechnet heute einen gepflegten und mobilen Eindruck machen? Aber es kam noch besser.

Warum ihr niemand Bescheid gesagt hätte, dass heute Besuch käme, fragte sie energisch. Ich sagte ihr, dass sie in ihren Kalender schauen könne, dort wäre der Termin vermerkt. Meine Mutter schaute nach und ich bereute augenblicklich, den verfluchten Kalender erwähnt zu haben, denn an diesem Tag war zusätzlich ein Name eingetragen. Es war der Name ihres alten Klassenkameraden und sie erzählte, dass sie demnächst zum Klassentreffen gehen wolle. Autsch! – das war kontraproduktiv für das Gutachten. Die Gutachterin könnte den Eindruck gewinnen, dass sie eine gepflegte alte Dame vor sich hatte, die noch in der Lage war, an einem Klassentreffen teilzunehmen.

Meine Mutter bekommt tatsächlich noch von einer entfernten ehemaligen Klassenkameradin Einladungen zu einer Art Klassentreffen. Sie will jedoch seit Jahren nicht mehr teilnehmen, obwohl ich sie hinfahren und wieder abholen würde. Vielleicht ist es auch besser so, wenn ich noch an ein Treffen der ehemaligen Wassergymnastikgruppe denke, zu dem ich sie gefahren hatte. Damals saß meine Mutter mit einer einzigen ehemaligen Wasserratte am Tisch, die nicht nur wesentlich jünger und stark geschminkt, sondern noch dazu eine Quasselstrippe vor dem Herrn war. Sonst war niemand zu dem Treffen erschienen. Eine Art „Tee for two“ zum Abgewöhnen. Als ich meine Mutter abholen wollte, setzte ich mich als Verstärkung dazu, was den Redefluss der schillernden Pool-Nixe noch befeuerte. Ihr kunstvoll umrandetes Mundwerk stand nicht still, bis wir uns unter einem Vorwand verabschiedeten.

Ich denke, dass zu einem Klassentreffen kaum mehr Teilnehmer zu erwarten wären, und das hat folgende Gründe. Fast alle ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler weilen entweder nicht mehr unter uns oder in einer Altersresidenz, wo sie in diesem Jahr ihren neunzigsten Geburtstag begehen – dass muss man jetzt aber nicht wörtlich nehmen. Im Dezember ist es bei meiner Mutter soweit. Sie plant bereits, was ich sehr begrüße, denn die Vorfreude ist bekanntlich die beste Freude.

Wer weiß, was uns erwartet in dieser Corona-Krise? Der neunzigste Geburtstag könnte auf eine Art „Dinner vor one“ hinauslaufen – mit Abweichungen natürlich. Ich sehe mich bereits als alkoholfreien Butler mit Mundschutz. A wonderful party ist was anderes. In jedem Fall wird bei uns, ähnlich wie in dem Sketch, auch immer dasselbe gefragt und geantwortet. „The same procedure as last year“ wäre es für meine Mutter allerdings nicht, denn wir hatten letztes Jahr mit der Familie gefeiert. Und das war bei Weitem nicht so lustig wie bei Miss Sophies großem Tag. Aber sehen wir es mal so: Miss Sophie, die Ärmste, hatte offensichtlich keine Familie. Meine Mutter hat immerhin vier Kinder, sieben Enkel und drei Urenkel, und es gibt die segensreiche Erfindung des Telefons.

Apropos: Täglich fragt unsere Mutter am Telefon, welchen Tag wir heute hätten. An dem besagten Prüfungstag des Medizinischen Dienstes tat es die Gutachterin. Voll ertappt ließ meine Mutter nachdenklich ihren Blick schweifen, bis er auf die Tageszeitung fiel, die vor ihr lag. Dort konnte sie, wie ein Schüler ”unauffällig“ abgucken. Super! Es schien alles ”prima“ zu laufen für sie. Um bei dieser Prüfung noch besser abzuschneiden, gab sie auf Anfrage an, dass es ihr IMMER gut ginge und sie eine eiserne Gesundheit hätte. Schmerzen? Damit hätte sie KEIN Problem. Im Geiste verabschiedete ich mich bereits vom Pflegegrad vier.

Als die Gutachterin gegangen war, fand ich die ausgeschnittene Todesanzeige des besagten Mitschülers unter dem Kalender. Das war also der Grund für den Eintrag gewesen. Zu spät! Irgendwie schien sich alles gegen eine Höherstufung verschworen zu haben.

Der ”Zwischenfall“ mit dem Medizinischen Dienst war schnell vergessen und eine angeblich verschwundene Nagelfeile rückte in den Fokus meiner Mutter. „Die hat bestimmt jemand mitgenommen,“ meinte sie, „hier gehen so viele Leute ein und aus“. Ich sagte ihr, dass sie sich nichts auf ihre alte Saphirfeile einzubilden bräuchte. Heute bevorzugt man Glasfeilen, die niemals stumpf werden. Und damit wieder Ruhe einkehrte und meine Mutter beschäftigt war, machte ich mich auf die Suche und fand das antike Teil schließlich in der Küchenschublade. Die Feile hatte eindeutig bessere Zeiten gesehen. Die Saphirsplitter hatten sich größtenteils aus dem Staub gemacht, genau wie die Gutachterin, die nun leider nicht mehr miterleben konnte, wie ihr Prüfling in sich zusammensackte und im Grunde wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte.

Als meiner Mutter später bewusst wurde, worum es bei dem Gutachten gegangen war, fing sie an zu weinen. Sie begriff, dass es besser gewesen wäre, sich nicht so zusammenzureißen. Ich fragte sie, wie sie das überhaupt geschafft hatte. Die Antwort entsprang ihrem Gedicht-Repertoire. Es berührte mich sehr, als sie zitierte:

Ich will, das Wort ist mächtig,

Spricht es einer ernst und still;

Die Sterne reißt‘s vom Himmel,

Das eine Wort: Ich will!

Ja, des Menschen Wille ist sein Himmelreich; und der Wille vermag Sterne vom Himmel zu reißen, aber die Pflegegrad-Erhöhung hat er zum Glück nicht verhindert, wie mir später schriftlich mitgeteilt wurde.

Ende gut – alles nicht! Oder? Wie auch immer, mit dem passenden Pflegegrad werden wir die Ur-Oma schon schaukeln.

Von Bremsspuren in der Coronakrise

Das Leben in den Zeiten von Corona scheint bei den Menschen eine starke Sehnsucht nach Normalität zu wecken. Es ist das natürliche Verlangen, alles seinen stinknormalen Gang gehen zu lassen, ohne dass es Spuren hinterlässt. Und das lässt offenbar Klopapier in ihrem Unterbewusstsein aufploppen. Anders kann ich mir den Umstand nicht erklären, dass der Klopapier-Umsatz dermaßen explodiert ist. Der Pro-Kopf-Verbrauch ist sozusagen durch die Decke gegangen. Dabei hat Klopapier gar nichts mit dem Kopf zu tun.

Wo wir uns schon gedanklich unter der Gürtellinie befinden, muss ich an meine fast neunzigjährige Mutter denken. Die Damen vom Pflegedienst hatten mir vor ein paar Tagen geraten für meine Mutter statt der Inkontinenz-Vorlagen, so genannte Inkontinenz-Pants zu besorgen. Die Vorlagen würden nicht mehr reichen, es ging immer mehr in die Hose.

Als ich die Info erhielt, hatte ich die üblichen Vorlagen allerdings schon beim Vertragshändler der Krankenkasse bestellt und dieser Firma auch schon die dafür notwendige ärztliche Verordnung geschickt. Da der Corona-Virus offenbar auch in diesem intimen Bereich seine ganz eigenen Bremsspuren hinterlässt, gab es Lieferschwierigkeiten bei den „Vorlagen“. Glück gehabt, dachte ich so bei mir, als ich zum Telefonhörer griff, um die Bestellung zu ändern

Der Vertragshändler für Medizinprodukte hat übrigens den wohlklingenden Namen Corona Medical. (Heute würden die natürlich auch einen anderen Namen wählen, aber damals hatten die ja noch keine Ahnung, was im März 2020 auf sie zukommen würde.) Sie können sich vorstellen, was bei dieser Firma momentan los ist und wie genervt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind. Weil ich nicht durchkam, hatte ich zunächst geglaubt, dass die ihre Telefonnummer geändert hätten. Ich hörte auch ständig einen völlig unbekannten Ton – also auch kein Besetztzeichen. Aber laut Google war die Telefonnummer immer noch dieselbe. Also probierte ich es wieder und wieder. Als ich endlich durchgekommen war, beeilte ich mich, meine Kundennummer durchzugeben und nach Mustern zu fragen. Ich wollte von vorne herein klar stellen, dass es sich bei MEINEM Anruf nicht um einen Corona-Krisen-Hilferuf handelte. 

Die Dame am Telefon war froh über meine einfache Nachfrage nach Artikeln, die auch noch dazu verfügbar waren. Die Lieferung ließ auch nicht lange auf sich warten und wir konnten in die Testphase übergehen. Schließlich kann ich meiner Mutter langfristig nicht irgendetwas „unterschieben“, es soll auch das Richtige sein – und die Auswahl ist groß, sozusagen eine Wissenschaft für sich; allein die Pants unterscheiden sich in Passform, Größe, Aufnahme-Kapazität und Qualität. Die Krankenkasse zahlt natürlich nur die billigste Variante und erhebt zusätzlich noch eine Zuzahlung. Aber die Qualität ist sehr wichtig; und allein, schon weil meine Mutter immer so bescheiden ist und sich sonst nichts gönnt, soll sie den Rolls Roys aus der Welt der Hygiene unter sich spüren. Darum fiel die Entscheidung federleicht.

Nun ist die Ware bestellt. Es ist allerdings zu befürchten, dass es auch bei diesem Artikel zur Zeit Lieferengpässe gibt, weil sich die Luxus-Pants in einem dieser LKWs befinden, die momentan an den Grenzen ewig im Stau stehen müssen. Auch wenn die armen LKW-Fahrer zum Teil von Soldaten mit Essen und Getränken versorgt werden, können sie einem leidtun. Und die Frage darf erlaubt sein: „Was ist, wenn die mal müssen?“

Immerhin könnte UNSER Hygieneartikel-Fahrer saugstarke „kleine und große Helfer in der Not“ verteilen. Ob die richtig sitzen, ist die zweite Frage. Aber es passt eben nicht immer alles so perfekt und im Leben geht eben immer mal was daneben.

Apropos, Hygiene … Womit wir auch wieder beim ach so aktuellen Thema Klopapier angekommen wären. Die Leute scheinen zu glauben, die Corona-Krise nur mit Bergen von Klopapier überstehen zu können. Komisch! Sie fahren kaum noch Auto, haben aber panische Angst davor, Bremsspuren zu hinterlassen. Wozu die enormen Hamsterkäufe? Wir alle sollten in dieser schweren Zeit solidarisch zusammenstehen – natürlich mit eineinhalb Metern Abstand, besser zwei. 😉

Funktionsfell trifft auf falschen Fummel

Heute ist das Wetter sehr unbeständig. Regen und Sonne wechseln sich ab, begleitet von stürmischen Winden, die ein kurzes Gewitter aufziehen ließen. Aber auch das genieße ich in Dänemark. Hier angekommen, kann ich runterfahren, spätestens beim Sonnenuntergang. Der Himmel und das Meer ändern ständig ihr Erscheinungsbild – ein gigantisches Farbenspiel, von dem es  allabendlich eine Neuinszenierung gibt.

Diese wilde menschenleere Natur fasziniert mich. Mein Mann und ich sitzen oft im Ferienhaus nebeneinander am Tisch, der direkt an der Fensterfront steht, vor uns unsere Ferngläser. ER schaut auf die Wetter-App seines Handys, ICH beobachte das Wetter draußen. Ab und zu hoppelt ein Hase vorbei.

Gestern war ein riesiger Regenbogen am Himmel sichtbar. Für kurze Zeit hatte er noch einen halben Regenbogen neben sich. Am kleinen Jachthafen streunten zwei Füchse am steinigen Strand entlang. Als der eine Fuchs staunend eine denkbar falsch aufgetakelte Frau erblickte, drehte er sich um und lief davon. Sein kleiner neugieriger Kollege flitzte hinterher, sobald er den Blick von dieser Attraktion lassen konnte. Die Frau sah so ganz anders aus, als die Menschen in Funktionskleidung, die es sonst an diese einsame Bucht verschlägt. Nicht, dass Füchse irgendetwas von Mode verstünden. Wozu auch, wenn sie doch von Kopf bis Fuß in ihren kuscheligen Funktionspelz eingehüllt sind. Aber die Frau verstand etwas von Mode, auch wenn Das Passende Outfit  nicht ihr Spezialgebiet zu sein schien.

Es ist Samstag, und da macht sich auch bei Regen und Wind der eine oder andere Mensch auf den Weg zum Meer, so auch besagte Frau. Während ihr Begleiter es vorzog im Auto sitzen zu bleiben, setzte sie bei stürmischer Brise die Kapuze auf ihre Frisur und fing an, Steine zu sammeln. Sie trug ein weites Figur umschmeichelndes Ensemble, das aus einem kurzen bunten Kleid und einer etwas längeren senfgelben verschlusslosen Kapuzen-Strickjacke bestand. Ihr modisch aktuelles Outfit hatte sie mit auffälligen Stiefelettchen komplettiert, die ihre kurzen Beine noch kürzer erscheinen ließen, als sie ohnehin waren.

Inzwischen peitschte der Regen gegen die Windschutzscheibe des Autos. Die Frau hielt sich fröstelnd ihre dünne Strickjacke zusammen und der Mann hielt es weiterhin für besser, nicht auszusteigen. Die Strickkapuze war inzwischen durchnässt und die Frisur platt. Aber die Frau hatte sich die Steine nun einmal in ihren vergeblich frisierten Kopf gesetzt und ging, in gebückter Haltung Ausschau haltend, weiter.

Weil die nasse Strickjacke nun wie eine zweite Haut an der Frau klebte, zeichnete sich die Silhouette ihrer viereckigen Figur ab. Die kaschierende Wirkung der trendigen Kreation war dahin. Ja, frau hat’s nicht einfach Frisur, Figur und Natur unter einen Hut zu kriegen. Und auf die Wirkung von Mode ist ja grundsätzlich kein Verlass, auf Funktionskleidung schon – und vor allem auf eine passende Wetter-App. Auf dieser hatte mein Mann nämlich gesehen, dass schon wenig später Regen und Wind nachlassen würden.

Und siehe da, während die Frau wie ein begossener Pudel wieder im Auto saß, lockerte es von Südwesten her auf. Die Sonne trocknete die unzähligen wohlgeformten Steine am Strand und ließ das Meer vor dunklem Horizont silbrig glitzern. Eine wunderschöne Silhouette!

Wenn ein dünner Rosenkavalier durchs Netz geht

Ich meide Jahrmärkte. Aber in den abgelegten Frauenzeitschriften meiner Mutter präsentiert sich mir ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, dem ich kaum widerstehen kann. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Abscheu und Mitleid verschlinge ich die Bilder von Gesellschaft und Adel. Es sind Fotos von Menschen, die abhängig sind von Publicity. Man kann sie als reich und berühmt oder arm und prominent betrachten. Wahrscheinlich trifft beides zu.

Neulich sah ich ein aktuelles Bild von einem Paar, er im traditionellen Cut, sie ganz in Weiß. Im Hintergrund eine traumhafte Kulisse mit roten Rosen. Sie küssten sich innig, während es rote Rosen regnete. Ich dachte sofort an Hildegard Knefs bekanntes Lied »Für mich soll‘s rote Rosen regnen«.

Wenn man mal davon absieht, dass der Bräutigam mit seinem langen schütteren Haar aussah wie Otto Walkes, waren es Bilder wie im Märchen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute… und zwar als Unverheiratete! Der jung gebliebene Otto-Versandhaus-Erbe veröffentlichte nämlich kurze Zeit später in einem Statement, dass die wunderschönen Bilder, die seine Verlobte gepostet hätte, sehr wohl ihre Liebe zeigen würden. Gleichwohl wolle er jedoch deutlich machen, dass sie NICHT verheiratet wären. Mit anderen Worten, die vierzig Jahre jüngere Verlobte des Herrn Otto würde wohl gerne mit ihm verheiratet sein, hat vorerst jedoch keine Veranlassung ihren Status zu ändern.

Ähnlichkeiten mit realen Hochzeiten sind rein absichtlich. Die hübsche junge Braut, die Teilnehmerin bei Germany‘s Next Topmodel und Dschungelcamp war, brauchte ganz offensichtlich einen Hingucker, um ihre Follower bei der Stange zu halten. Das bringt Publicity, nicht zuletzt auch für ihren Rosenkavalier, der aufgrund dieser Bilder vielleicht ein kleines bisschen prominenter wird. Wieder musste ich an Hildegard Knef denken. In ihrem größten Hit sang sie: „Ein und Eins das macht zwei, drum küss und denk nicht dabei, denn denken schadet der Illusion.“

Auf der nächsten Seite der Zeitschrift war ein weiteres Hochzeitspaar abgebildet. Ich sah ein hauchdünnes cremeweißes Etwas von einem kurz geschlitzten Kleid, dass im oberen Bereich den Riesenbusen einer Braut zusammenhielt. Auf dem Kopf trug sie ein Hütchen mit einem weißen Tüllnetz vor dem Gesicht. Die gigantischen schwarzen Wimmern dahinter erinnerten mich unwillkürlich an Miss Piggy. Aber die Frau auf dem Bild, die nichts weiter trug, als den Stoffschlauch und das Netzhütchen, war Pamela Anderson.

Sie musste wahrscheinlich achtgeben, dass sich die falschen Wimmern beim Klimpern nicht im Netz verfingen. Ganz offensichtlich ins Netz gegangen war ihr der zweiundzwanzig Jahre ältere Filmproduzent, den sie im Schlepptau hatte. Für sie war es das fünfte Mal, dass sie „Ja“ sagte. Zwölf Tage danach verkündete sie das Ehe-Aus, wie ich lesen konnte. Scheidung? Nicht notwendig. Liebe wäre ein Prozess, meinte sie im Interview. Sie hätten sich entschieden, dem Prozess zu vertrauen und die Anerkennung ihrer Ehe-Urkunde aufzuschieben. Die Zeit, um zu überlegen, wollten sie sich getrennt nehmen. Was für ein Statement! Man kann sagen, Publicity heiligt die Mittel. Das Paar hatte zwar „Ja“ gesagt, aber gar nicht unterschrieben. Ist das abgefahren!

Apropos abgefahren. Vielleicht hätten die Beiden lieber nicht in die desillusionierenden Flitterwochen fahren sollen. Dann wären sie womöglich noch ein paar Tage länger zusammen geblieben.

Ich frage mich, vor welchem halbseidenen Zeremonien-Meister sich das „Rosenpaar“ sein Ja-Wort gegeben hatte. Ist die „Probe-Ehe ohne Unterschrift“ der neueste Schrei der modernen Weddingplaner? Wer weiß, vielleicht haben die solche unverbindlichen Zeremonien längst in ihre Angebotsliste aufgenommen. Wenn nicht, dürfte das ein ausbaufähiges Geschäftsmodell mit Zukunft sein. Für Paare mit offener Zukunft. Drum prüfe, was sich ewig bindet, ob sich keine bessere Methode findet. Ich hätte da einige Ideen für Special-Angebote:

„Ein Hauch von Hochzeit für das Paar von Welt“

„Wedding light für die kleine Beziehung zwischendurch“

„Schnupper-Trauung für Paare ohne Traute“

„Fake-Wedding für Anfänger und Fortgeschrittene mit Scheidungsunverträglichkeit“

„Beziehungsneustart nach traditioneller Art – ohne Staat“

„Sag niemals nie!“ – Last Minute Angebote für Langzeitpaare

„Sag JEIN“ – Das unverbindliche Event zum Posten

„Sag nichts“ – Das Express-Hochzeits-Fotoshooting für Paare mit On/Off Beziehung

Immer nach dem Motto: Jetzt eine spannende Schummel-Trauung, später keine Ehe-Spannung!

Man weiß ja nie. Am Ende hält das Hüftgold von der Hochzeitstorte länger als die Beziehung. Und wieder fiel mir das Lied ein: „Ein und Eins das macht zwei, drum küss und lächle dabei, wenn dir auch manchmal zum Heulen ist.

Ich bin froh darüber, dass die meisten Hochzeitspaare nicht prominent sind – aber glücklich! Und ihre wunderschönen Bilder sind  für sie nicht nur Fotos, sondern auch Erinnerungen an kostbare Augenblicke, die sie wie einen Schatz hüten. Für sie hat es vielleicht keine roten Rosen geregnet, sondern Regentropfen, aber die waren echt, genauso wie der Glanz in ihren Augen und die Tränen des Glücks!

Von fliegenden Nähmaschinen und armen Würsten

Der Countrymuisc-Sänger John Denver hatte ein Ultraleichtflugzeug. Das hatte einen winzigen Motor, der nicht viel größer, als der einer Nähmaschine war. Und mit dieser „Nähmaschine“ war er abgestürzt. Es stellte sich heraus, dass er zwar getankt hatte, aber nur Sprit. Das Benzintanken hatte er in seinem betrunkenen Zustand vergessen.

Daran musste ich denken, als meine Nachbarin mir erzählte, dass ihr neuer Thermomix abgestürzt sei. Ob der von der Arbeitsplatte gefallen sei, wollte ich wissen. Nein, da sei doch ein Computer drin, klärte sie mich auf. Und der wäre abgestürzt. Der bekäme sogar Updates. Bei dem neuen Modell sei das Display außerdem noch größer. Man dürfe nur nicht mit schmierigen Fingern auf das Touchscreen touchen, das wäre nämlich empfindlich. Mit dem Computer könne man zigtausend Rezepte jeweils für vier Personen abrufen, die alle beim Kochen in Schritten erklärt würden, wenn man drauf toucht, natürlich nur mit sauberen Fingern. Dass das Gerät die Rezepte nicht für sechs Personen umrechnen könne sei kein Problem. Wenn ihre Eltern kämen, würden sie einfach Essen gehen.

In dem Neuen könne man jetzt auch braten, meinte sie stolz, z.B. Currywürste. Ich weiß, wie gerne meine Nachbarin im Sommer Grillwürste isst. Aber irgendwie gelang es mir nicht, mir vorzustellen, wie vier Bratwürste in diesem Wunderwerk der Küchenausstattung hochkant vor sich hin brutzelten.

Ich Dummerchen! Für Currywürste werden die Bratwürste doch in Stücke geschnitten, erinnerte mich meine Nachbarin. Und die Stücke würden beim Braten im Thermomix sogar umgerührt werden, damit sie nicht anbrennen, fügte sie begeistert hinzu. Ist das nicht genial? Sie musste sich einfach das neuste Modell zulegen, schwärmte sie als überzeugte Hightech-Liebhaberin mit verklärtem Gesichtsausdruck. Solch ein Luxusteil wäre zwar nicht gerade im Sonderangebot zu haben, aber eine gute Investition. Und sie wäre froh, dass sie jetzt ZWEI Thermomixer hätte. So könne sie sich durchaus vorstellen, in Zukunft zwei Sachen gleichzeitig zu kochen.

Okay, dachte ich so bei mir, ICH lass aber auch nichts anbrennen. Vor meinem geistigen Auge sah ich mein Cerankochfeld mit seinen vier Zonen. Dort brodelte es für 6 Personen in drei Töpfen gleichzeitig, während in der beschichteten Pfanne Fleischstücke im Ganzen horizontal vor sich hin brutzelten und ich beim Lesen des Rezeptes neue Fingerabdrücke auf meiner selbstgeschriebenen Kochkarte hinterließ. Wie heißt es doch so schön: Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es!

Wie auch immer. Ich habe jedenfalls mal wieder etwas dazugelernt:
Man kann mit „Nähmaschinen“ fliegen und mit Mixern braten und alles hat ein Ende, nur die Currywurst hat zwölf!

Von Zahnkillern und halbnackten Osterhasen

Bei meinem letzten Besuch hörte ich meine demente Mutter singen: „Fass‘ an Hals und zupf‘ am Bauch, fass‘ an Hals und zupf‘ am Bauch.“

Ups, dachte ich irritiert, wo soll ich zupfen? Ich fragte sie, ob ich die Pinzette holen soll. Aber sie war in ihren Gesang vertieft. „Grabbel hier mal hin, grabbel da mal hin, grabbel auch mal in die Mitte“, trällerte sie weiter. Was? Soll ich ihr vielleicht den Rücken bürsten, fragte ich mich? Meine Mutter sah meine Ratlosigkeit. „Das ist ein Lied über Instrumente“, sagte sie lachend, während die Sonne, die gerade mal wieder durch das Fenster hereinschaute, eine Zahnlücke an ihrem Oberkiefer gut sichtbar machte.

So erfuhr ich also, dass man das Cello am Hals anfassen und am Bauch zupfen und beim Klavier mal hierhin und mal dahin grabbeln soll. Dieses gewöhnungsbedürftige Lied hat übrigens noch weitere Strophen, wie ich hören konnte. „Die Geige, sie singet, sie jubelt und klinget, Die Klarinett’, die Klarinett’ macht dua dua dua gar so nett,.“ Ich freute mich darüber, meine Mutter mal wieder fröhlich singend zu erleben. Sie kannte noch alle Strophen des Liedes, in dem weitere Instrumente vorkamen. Einfach wunderbar, die Demenz war wie weggeblasen. Und ich wusste nun Bescheid, die Trompete, sie schmettert, das Horn ruht sich aus – und der Zahn ist raus …

Wie letzteres passiert war, wusste meine Mutter nicht mehr. Ich fragte mich, womit sie sich wohl den Zahn ausgebissen haben mag. War etwa der Osterhase daran Schuld? Vor den Feiertagen hatte sie sich nämlich einen großen Schokoladen-Osterhasen gekauft und auf ihre Wohnzimmer-Anrichte gestellt – ein hübscher Blickfang. Als ich ihn zwischendurch sah, musste ich zweimal hinschauen. Er stand immer noch an seinem Platz, war aber irgendwie nicht mehr wirklich dekorativ. Untenherum war der Goldhase nicht mehr golden, sondern schokoladenbraun. Alles abwärts der Gürtellinie, äh der roten Glöckchen-Halskrause war entblößt. Und beim genauen Hinsehen musste ich feststellen, dass er kein Hinterteil mehr hatte. Es war aber exakt nur soviel abgebissen, dass er noch sitzen konnte. Das nennt man Maßarbeit. Meine Mutter schämte sich, dass sie nicht widerstehen konnte und einfach hineingebissen hatte.

Aha, das war also der Übeltäter, dachte ich; aber wo war der abgebrochene Zahn? Hoffentlich ist er nicht aus Versehen im Staubsauger oder im Müll gelandet. Ich ließ meinen Blick schweifen und fand ihn schließlich. Er lag auf einer Packung Schogetten. Das muss man meiner Mutter lassen, sie hatte den Zahn dem Verursacher zugeordnet. Ihr fiel dann auch wieder ein, dass sie sich an diesen dicken harten Zartbitter-Schokoladenstücken den Zahn ausgebissen hatte. Damit war meine Ermittlungsarbeit abgeschlossen und das Thema erst einmal gegessen, genau wie der unschuldige Hase. Seine unwiderstehliche Anziehungskraft hatte ihn dahingerafft, wie zuvor die Goldfolie. Er ward nicht mehr gesehen. Ja, so kann es gehen, wenn die Versuchung in Gestalt eines Goldhasen daherkommt. 

Die Zahnlücke könne man vielleicht nicht mehr sehen, wenn sie sich einen Bart wachsen ließe, überlegte meine Mutter laut, aber dann würde sie aussehen wie ein Affe, befürchtete sie. Das wollte sie dann doch nicht. Auch ich hielt eine Gebiss-Reparatur für sinnvoller und verwahrte den abgebrochenen Zahn an einem sicheren Ort. Ich fixierte ihn mit Tesafilm seitlich am Arzneischränkchen, damit ich ihn nicht ein zweites Mal suchen musste.

Meine Mutter liebt Liedertexte, Gedichte, Zitate und Sprüche. Damit bestreitet sie inzwischen einen Großteil ihrer Konversation. Eine Ihrer Devisen ist »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«. Eine andere lautet »Kann nicht liegt auf dem Friedhof, will nicht daneben«. Und meine Mutter will! Außerdem ist sie fest davon überzeugt, dass sie alles alleine kann. Das ist eine sehr anstrengende Kombination. Sie glaubt voll den Durchblick zu haben und trennt sogar den Müll. Nennen wir es abstrakte Mülltrennung. Am Tag vor der Müllabfuhr ziehe ich mir dann regelmäßig Einmal-Handschuhe über und sortiere um, bis alles in den vorschriftsmäßigen Gefäßen liegt. Aber zurück zum eigentlichen Thema.

Nun mussten wir uns erst einmal auf die Suche nach dem Zweit-Gebiss machen, damit ich das angeschlagene Teil zum Zahnarzt bringen konnte. Das Archivieren von Dingen gehörte noch nie zu den Stärken meiner Mutter. Ich musste den ganzen Kleiderschrank umkrempeln bis ich endlich die dritten, vierten oder fünften Zähne fand. Zum Glück fing ich mit dem richtigen Schrank an, sonst hätte die Aktion bestimmt noch zwei Stunden länger gedauert. Was ich noch alles zum Vorschein beförderte, ist eine andere Geschichte.

Das Gebiss, dass ich nun in den Händen hielt, bekam sie vor fünf Jahren und ist das jüngste von allen. Damals hatte sie es aber abgelehnt und lieber weiterhin das Vorgängermodell getragen, weil es angeblich besser saß. An diesem Tag war sie aber froh über die Ersatz-Beißerchen aus ihrem Schrank, denn sie wollte nicht ohne Zähne im Mund dastehen, während ihr Lieblings-Gebiss repariert wird. So tauschte sie ihre obere Kauleiste bereitwillig aus. Auf diese Weise kam wenigstens das Oberteil des neuen Gebisses endlich einmal zum Einsatz, wenn auch nur für einen Tag.

Nun lag aber noch das Unterteil des neueren Gebisses vor meiner Mutter auf dem Esstisch. Und das ließ ihr keine Ruhe. Ununterbrochen probierte sie im Wechsel das neue und das alte Unterteil hin und her. Das eine Unterteil passte nicht zu dem frisch eingesetzten Oberteil und das andere Unterteil passte nicht mehr auf ihren Unterkiefer. Bevor wir beide völlig durcheinander kamen, ließ ich das Teil, dass nicht zum Unterkiefer passte, also das neueste Gebissunterteil verschwinden

Vom Suchen und Aufräumen habe ich inzwischen wirklich genug, da mein Mann und ich gerade unseren Dachboden entrümpelt haben. Ich erzählte meiner Mutter, dass wir zwei riesige alte Korbflaschen, die zur Weinherstellung dienen, gefunden hätten. Sofort war sie Feuer und Flamme und meinte, dass wir die doch an einen Weinhändler verkaufen könnten. „Du bräuchtest nur mal sagen, dass du die besitzt. Aber nicht verraten, dass du sie loswerden willst“, riet sie mir fast schon verschwörerisch. Als erfahrene Flohmarkt-Besucherin wusste sie noch, wie man Desinteresse vortäuscht. „Du musst ganz cool sein. Das musst du noch lernen.“

Ja, dachte ich, und wir alle sollten lernen uns nicht die Zähne auszubeißen. Der eine beißt sie sich an den enormen Problemen dieser Welt aus, der andere an enormen Schokoladenstücken. Die Probleme dieser Welt kann ich nicht lösen, aber ich kann meiner Mutter die passende Schokolade kaufen, damit nicht bald der nächste Zahn abbricht. Nun hat sie dünne Täfelchen. Sicher ist sicher.

Nur der Zahn der Zeit bricht niemals ab – auch mit Schogetten ist nichts zu machen. Er nagt weiter und lässt sich nicht aufhalten. Deshalb freut Euch des Lebens, Leute, solange es geht – und singt und lacht, auch wenn es mal durch die Zahnlücke pfeift!

Mit Hausschuhen aufs Siegertreppchen

Es war mal wieder so weit. Wir hatten den ersten Mittwoch im Monat und um fünfzehn Uhr würde gegenüber die gesellige Kaffee-Runde beim Frauenbund beginnen. Bereits zwanzig Minuten vorher war meine Mutter nicht mehr zu halten. Sie ist schon immer bekannt für ihr frühes Eintreffen, was Gastgeber sehr nervös machen kann. Zum Glück hatte meine Mutter bereits ihren neuen roten Pullover an, denn mit Umziehen oder Haare kämmen darf man ihr in der „Hektik“ nicht kommen.

Da sie nur die Straße überqueren muss, zieht sie selbst bei frostigen Temperaturen grundsätzlich keine Jacke an. Und diesmal setzte sie noch einen drauf, indem sie mit ihren Hausschuhen loszog. Sie war nicht davon abzubringen, obwohl ich ihre Halbschuhe schon bereitgestellt hatte. Nein, es mussten die Hausschuhe sein. Okay, es sind Birkenstocksandalen, aber trotzdem.

Als meine Schwester ihr solche vor dreißig Jahren schenkte, lehnte sie diese kategorisch ab, um sie dann letztlich doch zu tragen. Immer nach dem Motto: Man darf doch nichts umkommen lassen, besonders wenn es so teuer ist. Und mit solchen lieb gewonnenen Pantoletten startete meine Mutter nun durch.

Ich bot ihr an, sie über die Straße zu begleiten, aber wie immer vergebens. So blieb ich an der Haustür stehen und sah ihr nach. Am Eingangsbereich des Frauenbundes, der auf der anderen Straßenseite liegt, war gerade eine andere Teilnehmerin angekommen. Auch sie bot rufend ihre Hilfe an. Aber meine Mutter lehnte ab; sie war mal wieder fest entschlossen zu demonstrieren, wie selbstständig sie ist. Zielstrebig schob sie ihren Rollator die Einfahrt hoch und steuerte zielstrebig die Straße an, während ein Auto nahte. Was hat sie vor, dachte ich? Es verschlug mir den Atem, als ich sah, was dann geschah:

Die Außenseiterin im roten Trikot setzt ihren Weg zur Straße unbeirrt fort. Überraschend legt sie mit ihrer Gehhilfe noch an Tempo zu. Wird sie es halten können? Auch der Autofahrer lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hält konstant seine Geschwindigkeit. Ganz deutlich zeichnet sich ein Zweikampf ab. Wer wird sich durchsetzen? Der Rollator geht klar in Führung und hat den Gehweg schon fast überquert. Beide Kontrahenten scheinen direkt auf einen Punkt zuzusteuern. Aber auch der Fahrzeugführer signalisiert Entschlossenheit. Die Spannung steigt. Dann doch ein kurzes Zögern des Mannes hinter dem Steuer. Kann die Rollatorfahrerin diese Chance für sich nutzen und ihren Vorsprung ausbauen? Die Spannung steigt. Das Duell läuft auf eine knappe Entscheidung in letzter Sekunde hinaus. Und da, gerade noch rechtzeitig, gelingt es der Seniorin den Rollator ruckartig auf die Fahrbahn zu puschen. Diese geschickte Strategie zwingt den Mercedes-Piloten endgültig zum Abbremsen. Die Achtundachtzigjährige kann sich souverän behaupten und entscheidet so die Zitterpartie für sich. Der Autofahrer ist damit aus dem Rennen. Mutig hat sich die Dame in Rot den Weg zum Gesamtsieg freigekämpft und sprintet nun in die Endphase.

Der Rollator holpert mit geradezu atemberaubendem Tempo vor dem stehenden Tourenwagen schnurgerade über das Kopfsteinpflaster – eine beeindruckende Performance. Auf der anderen Straßenseite manövriert die Siegerin ihr Vehikel geschickt zwischen parkenden Autos hindurch bis zur letzten Hürde, dem Bordstein. Doch was passiert jetzt? Statt den Rollator leicht anzukippen, damit die Vorderräder schon mal auf dem Gehsteig sind und sie den Rest leicht nachschieben kann, hebt sie die komplette Gehhilfe mit einem Ruck auf den Bürgersteig. Unglaublich, was uns hier geboten wird. Ein solcher Kraftakt gibt natürlich Extrapunkte in der Gesamtwertung. Diese Frau ist nicht zu bremsen, selbst mit Hausschuhen – für die allerdings Abzüge in der B-Note zu erwarten sind. Alles in allem ein knapper, aber verdienter Sieg durch perfektes Timing und vollen Körpereinsatz……….

Als meine normale Atmung wieder einsetzte, fiel mir ein, dass ich nicht Sportreporterin war, sondern genervte Tochter, die ihrer Mutter eigentlich den Rollator wegnehmen sollte. Der Autofahrer fuhr kopfschüttelnd weiter. Und ich machte dasselbe, als ich kurze Zeit später nach Hause fuhr. Mir wollte das Ganze einfach nicht aus dem Kopf gehen, und ich hoffte inständig, dass mir nicht mal so eine hyperaktive Oma vors Auto läuft. Was macht man, wenn man die Person vorher nicht sehen kann, weil sie z. B. zwischen parkenden Autos hervorprescht? Ups, genau so sieht der Rückweg meiner Mutter aus. Schreck lass nach.

Als ich noch nicht lange zu Hause war, rief meine Mutter schon an. Ich war einerseits erleichtert, dass sie den Rückweg offenbar heil überstanden hatte, aber andererseits verwundert, dass sie schon so früh wieder nach Hause gehoppelt war. Dann kam auch schon die Begründung. Sie hätte es drüben nicht lange ausgehalten, meinte sie.  „Die atmen alle, dann bekomme ich keine Luft „.

Ja, so ist das nun mal. Wo viele Menschen sind, wird auch viel geatmet. Das lässt sich wohl kaum vermeiden. Und beim Ausatmen entsteht sogenannte „schlechte Luft“, die alles Mögliche enthält. Inzwischen meint man, dass Kerzen und Menschen mehr Stickoxide produzieren als Autos. In einem Straßen-Café  an einer viel befahrenen Straße zu sitzen ist angeblich weniger gesundheitsschädlich als bei Kerzenschein an einer Adventsfeier teilzunehmen. Deshalb sollte wohl jeder Teilnahme an einer Adventsfeier eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorhergehen, besonders wenn es sich um den vierten Advent handelt.

Aber inzwischen gibt es ja LED-Kerzen und LED-Teelichte, die sogar flackern, wie man es von echten Kerzen kennt. Ich habe es damit probiert, also mit den LED-Produkten. Okay, diese künstlichen Kerzen kann man teilweise ganz gut einsetzen, aber eine Weihnachtspyramide bringen sie nicht in Bewegung, höchstens mit einem zusätzlichen Motor. Und darauf verzichte ich gerne. Es geht einfach nichts über die Atmosphäre, die warmer Kerzenschein herbeizaubern kann – er ist bisher unnachahmlich.

In meiner Kindheit erstrahlte sogar noch unser Tannenbaum im echten Kerzenschein – und wir hatten in meinem Elternhaus hohe Decken. Sie müssen sich vorstellen, wie das wirkte, wenn ein dreieinhalb Meter hoher Baum brannte, also nicht der Baum, sondern die unzähligen Kerzen an seinen Zweigen. Dann wurden Heilig Abend zusätzlich auch noch alle Kerzenleuchter bestückt und in Betrieb genommen. Die festliche Stimmung war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Vor freudiger Erregung spürten wir Kinder gar nicht, dass wir unter Einwirkung von Stickoxiden und bei akutem Sauerstoffmangel unsere Geschenke auspackten, die dafür allerdings frei von Elektrosmog waren. Vielleicht halten Sie mich für verrückt, aber ich denke, ich werde es weiterhin in der Adventszeit richtig krachen bzw. brennen lassen. Ich möchte mir wenigstens stundenweise ein Stück von dieser wunderbaren Atmosphäre meiner Kindheit zurückholen. Aber bis dahin haben wir noch ein paar Monate Zeit. Nun stehen keine Kerzen im Fokus, sondern Eier, also nicht die belasteten, sondern die versteckten. In diesem Sinne:
Frohe Ostern!