Bei meinem letzten Besuch saßen meine demente Mutter und ich im Wohnzimmer, und wir „unterhielten“ uns. Das muss man sich folgendermaßen vorstellen: Sie fragte, ich antwortete, wie bei einem Frage- und Antwort-Kartenspiel. Der Unterschied ist nur, dass es bei uns keine Karten gibt und es nicht wirklich Spaß bringt. Gäbe es Fragekarten, wären es nur sehr wenige. Da würde selbst das obligatorische Vertauschen der Antworten schnell langweilig werden. So ist das nun mal, wenn jemand in kurzen Abständen immer dieselben Fragen stellt.
Um abzulenken und ein wenig Pep in den Nachmittag zu bringen, erzählte ich meiner Mutter zwischendurch die eine oder andere „Neuigkeit“. Weil sie sofort alles wieder vergisst, ist für sie ja alles mehr oder weniger neu. Apropos: Unsere Öffentlich Rechtlichen Fernsehanstalten sollten bei ihrer Programmgestaltung unbedingt berücksichtigen, dass nicht alle ihre Zuschauer dement sind – und blöd sind sie schon gar nicht.
Während unserer Unterhaltung, fiel mein Blick auf ein paar Barthaare am Kinn meiner Mutter, die im Gegenlicht besonders deutlich sichtbar waren und immer dann in Bewegung gerieten, wenn sie sprach. Diese Haare wachsen bekanntlich nicht nur um den Mund herum, sondern auch am Hals und Doppelkinn, sofern vorhanden. Auch meine Mutter verfügt über ein solches Zusatzpolster, das allerdings nicht quer und prall am Hals sitzt, wie bei den meisten Menschen, sondern eher längs locker herunterhängt. Das nennt sich ganz offiziell Truthahnhals, und da sah ich Handlungsbedarf. Nicht was Sie jetzt denken. Für schönheitschirurgische Eingriffe ist bei meiner Mutter der Zug längst abgefahren.
By the way, warum nennt man das eigentlich „Schönheits“-Chirurgie? Wenn ich die einschlägigen Klatsch- und Tratschzeitschriften durchblättere, habe ich noch nie bemerkt, dass jemand nach einer solchen Operation schöner aussah. Oder zeigen die dort nur die „Kunst“fehler?
Für meine Mutter kamen solche Eingriffe noch nie infrage. Ich kenne keinen Menschen, der weniger eitel ist als sie. Aber lange helle Ziegenbarthaare am Truthahnhals? Da hört sogar bei ihr der Spaß bzw. die Pflegeverweigerung auf. Und so durfte ich, mit einer Pinzette bewaffnet, die unliebsamen Borsten jagen. Zumindest versuchte ich es. Denn immer, wenn ich zum Zupfen ansetzte, fing der Truthahnhals an zu beben, weil meine Mutter fürchterlich lachen musste. Dann ging das Beben in Vibration über. Jedes Mal, wenn ich die Pinzette wieder in Position brachte, gab es ein Nachbeben. Schließlich ließ auch ich meinem Lachen freien Lauf. Das Zupfen konnte ich erst einmal vergessen.
Worüber wir lachten? Es war zur Abwechselung eine wirklich neue Geschichte, die ich meiner Mutter beim Frage- und Antwortspiel erzählt hatte. Ich mag es kaum sagen. Ich berichtete ihr von einem älteren Herrn, der fast rund um die Uhr einen Nachrichtensender im Fernsehen schaut. Politik scheint seine Leidenschaft zu sein. Der Sender heißt Tagesschau 24.
Meine Mutter fand das interessant und wollte wissen, was er denn sonst so täte. „Pinkeln“ hörte ich mich sagen, woraufhin wir beide in Gelächter ausbrachen. „Und ab und zu geht was in die Hose, nicht nur in der Politik“, setzte ich lachend hinzu. Wir prusteten los und taten es auch während der Zupfaktion immer wieder. Der Tuthahnhals zuckte jedes Mal bevor er vom Beben ins Vibrieren überging. Es war köstlich!
Der ältere Herr möge mir verzeihen. Wir wollten uns nicht über ihn lustig machen. Aber das gemeinsame Lachen mit meiner Mutter tut so gut! Solche unbeschwerten Lichtblicke gibt es in unserer Betreuungskiste ohnehin viel zu selten. Da nutze ich jede Gelegenheit, den Truthahnhals in Wallung zu bringen.
Später wurde mir klar: Der alte Mann hat mindestens zwei Dinge mit meiner Mutter gemeinsam, eine schwache Blase und einen Fernseher, in den er ständig guckt. Das machte diese doppeldeutige Geschichte lustig und besonders reizvoll für uns. Es ist immer ein komisches Gefühl, wenn man auf jemanden stößt, der noch schlimmer ist als man selbst – in welcher Beziehung auch immer. Unterbewusst freut man sich, ohne darüber nachzudenken, dass einem gerade ein Spiegel vorgehalten wird. Aber das menschliche Auge sieht gern von sich auf andere, nicht auf sich selbst.
Als ich mich auf den Heimweg machen wollte, fragte mich meine Mutter mal wieder, wie alt sie jetzt eigentlich sei. Aber diesmal beantwortete sie sich die Frage selbst, noch bevor ich etwas sagen konnte, und zwar mit einem Lied. Fröhlich sang sie einen bekannten Udo-Jürgens-Song mit abgewandeltem Text: „Mit achtundachtzig Jahren, da fängt das Leben an, mit achtundachtzig Jahren, da hat man Spaß daran …“
Ja, unsere Mutter möchte, so wie ihr Onkel Wilhelm einhundertundvier Jahre alt werden. Da kann ich nur sagen: Besonders jemand, der die Hundert anpeilt, sollte in seinem Leben immer selbst für gute Stimmung sorgen, also für so genannte Good Vibrations! Geht übrigens auch ohne Truthahnhals, denn solche Schwingungen sind unsichtbar; sie lassen sich nur spüren.
Und eines steht fest: Sie machen das Leben erst lebenswert, oder?