Die Tante, die vom Himmel fiel

Mein Vater hatte keine Geschwister und meine Mutter nur einen Bruder, folglich hatte ich keine echte Tante. Doch der Himmel schien ein Einsehen zu haben und schenkte mir einen Ersatz – MEINE Tante Christa aus Hamburg. Sie war eine Schulfreundin meiner Mutter und ich durfte oft in den Ferien mit dem Zug zu ihr fahren und eine Woche bei ihr und ihrer Familie leben. Diese Besuche waren die Highlights meiner Kindheit. Bei ihr fand ich es einfach wunderbar. Alles war so anders, so besonders und so modern. Das war Ende der 1960er-Jahre und ich kam mir jedes Mal so vor, als sei ich in einem Doris-Day-Film aus Hollywood.

Wenn der Zug in den Hamburger Hauptbahnhof einlief, stand sie am Bahnsteig, um mich abzuholen. Aber MEINE Doris Day hatte keine wasserstoffblondierte Beton-Frisur und angeklebte Wimpern, sondern ein Band im Haar und ein Hauch Perlmutt-Schimmer auf den Lippen. Sie war nun mal eine Naturschönheit mit Stil und unaufdringlicher Eleganz. So nahm sie mich in Empfang und wir fuhren mit ihrem VW Käfer und meinem kleinen Koffer zu ihr nach Hause – für mich in eine andere, eine wunderschöne Welt.

Wer Tante Christas riesiges Wohnzimmer betrat, konnte sofort sehen, dass sie einen Vogel hatte; dass dieser bei uns geschlüpft war, ist dabei Nebensache. Dieser kleine Kanarienvogel hatte mit dem Umzug nach Hamburg jedenfalls das große Los gezogen, denn bei meiner Tante durfte er die meiste Zeit frei  im Raum herumfliegen. Fröhlich zwitscherte er vom Bücherregal herunter, auf dem für ihn täglich frisches Zeitungspapier ausgelegt wurde. Die neusten Nachrichten? Drauf gepfiffen! Sein kleines Gemüt blieb jedenfalls ungetrübt vom Schmerz dieser Welt. Und so flog er ganz unbeschwert ab und zu in sein kleines Restaurant mit Wellnes-Badeabteilung, das die Menschen Vogelbauer nennen.

Meine Tante Christa mochte Tiere, interessierte sich aber besonders für die Pflanzenwelt. Ich glaube, sie konnte jedes Kraut mit dem Namen ansprechen, auch mit der botanischen Bezeichnung. Wenn andere Leute Fernsehen schauten, las sie in Botanikbüchern. Ich kenne niemanden, der sich besser mit Pflanzen auskannte als sie – auch mit Pilzen. Bei ihr brauchte man keine Angst vor einer Pilzvergiftung zu haben, sie kannte alle heimischen Pilze.

In meiner Kindheit hatten wir sie oft mit der ganzen Familie in der Lüneburger Heide besucht – nicht die Pilze, sondern meine Tante. Sie hatte dort nämlich ein Wochenendgrundstück. Während unserer gemeinsamen Spaziergänge im Spätsommer und Herbst sammelte sie mit sachkundigem Blick alle essbaren Pilze, die ihr in die Finger kamen, um sie später in der Pfanne zu braten und daraus eine leckere Mahlzeit zu zaubern. So etwas Köstliches hatte ich vorher noch nie gegessen – und nachher auch nicht, wenn ich ehrlich bin.

Auch das Fondue-Essen hatte ich bei meiner Tante Christa kennengelernt. Wir saßen alle um ihren großen, runden Esstisch herum, vor uns große Teller mit Einteilungen, lange Spießchen mit Widerhaken und Schälchen mit unterschiedlichen Soßen und Zutaten. Neben akkurat geschnittenen Fleischstückchen gab es z. B. winzige Maiskolben. Ich bekam den Mund nicht mehr zu vor lauter staunen. Das änderte sich erst, als ich die ersten Bissen probieren durfte. Ich war begeistert.

Danach zeigte uns meine Tante Christa auf einer Leinwand kurze Super-Acht-Filme, die sie mit ihrer kleinen Handkamera selber gedreht hatte, u. a. während ihrer USA Reisen. Ich war einfach fasziniert davon, was sie alles konnte und was sie alles kannte.

Was sie noch liebte, waren Boxer, aber nicht die Zweibeiner, die k. o. im Seil hängen, sondern die Vierbeiner, die sie am Seil durch ihre geliebte Natur führen konnte. Ja die beiden Hunde, die im Laufe ihres Lebens an ihrer Seite standen und liefen, hatten sie ganz schön auf Trab gehalten oder sie die Hunde? Wie auch immer – Tante Christas Kilometerstand dürfte beachtlich sein.

Und nicht nur ihr Kilometerstand. Meine taffe, tolle Tante hatte gerade ihren 90sten Geburtstag und ich durfte diesen großen Tag mit ihr feiern. Wie früher fuhr ich mit dem Zug nach Hamburg. Sie holte mich zwar nicht vom Bahnsteig ab und wir fuhren auch nicht mit ihrem VW-Käfer, aber als ich ihr großes Haus betrat, stiegen sofort die schönen Kindheitserinnerungen in mir auf. Mein Herz quoll förmlich über – genauso wie ihr Haus.

Meine Tante Christa kann sich nun mal schlecht von Sachen, welcher Art auch immer, trennen. Und warum sollte sie auch. Ich schätze, die Lagerkapazität ihres Hauses dürfte, selbst unter Berücksichtigung der Sammelleidenschaft einzelner Familienmitglieder, noch ungefähr bis zu ihrem hundertsten Geburtstag reichen. Und den kann man ihr ruhig wünschen, denn sie hat nicht nur drei Töchter und drei Enkel an ihrer Seite, sondern ist auch nach wie vor eine gastfreundliche, aparte und interessierte Persönlichkeit.