Die Nachbarin und Freundin meiner Mutter, Elfriede, hat sich schon lange vom aktiven Vereinsleben der Alkoholfreikulturellen zurückgezogen und lebt im Heim, aber meine Mutter ist nach wie vor Mitglied und will an jedem Event teilnehmen. Sie will alles Mögliche mitmachen. Das ist ihr Rhythmus, bei dem sie immer mit muss. Zumindest meldet sie sich stets dafür an, auch wenn sie kurz vor dem Termin wieder einen Rückzieher macht.
Dieselbe Prozedur wie letztes Mal? Dieselbe Prozedur wie jedes Mal! Das kenne ich schon und bin im Grunde darauf vorbereitet; so war es auch vor ein paar Tagen.
Sie hatte mich darum gebeten, sie zu dem gemütlichen Beisammensein zu fahren, was ich auch gerne tat. Es fand diesmal in einem Gemeindehaus weit draußen statt. Als ich bei ihr ankam, jammerte sie erst einmal, dass es ihr nicht gut gehen würde und sie ohnehin nicht zu dem Treffen wolle. Natürlich war sie auch noch nicht umgezogen und stand vor mir in ihrer viel zu weiten karierten Stoffhose und der alten Ringelbluse, die sie lässig mit einer Kunstfellweste kombiniert. (Ihre Lieblingsstücke für den Alltag.) Es dauerte eine Weile und es brauchte viel Zusatzarbeit und Überredungskunst meinerseits, bis wir endlich im Auto saßen und stadtauswärts fahren konnten.
Durch diese Gegend war ich als Kind oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren. Ich erkannte die Häuser, aber trotzdem wirkte alles so fremd. Es waren viele verschiedene Menschen aus vielen unterschiedlichen Nationen unterwegs. Alles sah ziemlich durcheinander aus und viele Häuser waren äußerlich heruntergekommen. Für mich ein bisschen zu viel Realität für diesen Nachmittag, der schon so very angenehm bei meiner Mutter begonnen hatte. Ich war heilfroh, dass nicht auch noch Elfriede mit von der Partie war; sie hätte mir den Rest gegeben.
Meine Mutter war wie aufgezogen und erzählte und fragte immer und immer wieder das Gleiche. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb stellte ich innerlich auf Automatik, so wie ich es oft bei ihr tue. In meinem bewegungslosen Gesicht formten meine Lippen immer wieder die gleichen Antworten, während meine ausdruckslosen Augen starr auf den Verkehr gerichtet waren. Bis ich plötzlich mit folgender Frage aus meiner Lethargie gerissen wurde: „Guck mal, würdest du mit einem so braunen N…. fahren?“
Was soll ich sagen? Meine Mutter sagt, was sie denkt und sie denkt sich nichts dabei. Political Correctness: Fehlanzeige.
Ich hatte plötzlich wieder einen Gesichtsausdruck, aber mir fehlten die Worte und für eine Diskussion die Kraft. Und mir fehlten in diesem Moment meine Sphäre und meine Ordnung. Und während ich auch noch mit fehlender Vorfreude weiter durch die multikulturelle Gegend zu dem alkoholfreikulturellen Kaffeeklatsch fuhr, hielt ich mich mit meiner Lieblingsstrophe eines Gedichtes emotional über Wasser:
Meines Lebens Wunsch ist stiller Friede,
Guter Bücher eine kleine Zahl,
Ein geprüfter Freund mit einem Liede,
Und der Sparsamkeit gesundes Mahl.