Weihnachten in Schwarz Weiß

Am ersten Weihnachtstag wollte ich, wie geplant, meine Mutter zu mir holen. Damit sie sich schon mal bereit machen konnte, rief ich vorher an. Aber sie sagte nur, dass es ihr sehr schlecht ginge und sie lieber zu Hause bleiben würde. Sie hätte Bauchweh. Zu ihren ständigen Rückenschmerzen waren nun also noch Bauchschmerzen und Durchfall hinzugekommen.

Das liegt vermutlich an ihrem unkontrollierten und unregelmäßigen Essen, besonders in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, in der IHR Feinkostladen kein Essen liefert. Sie stopft alles Mögliche in sich hinein und vergisst zu allem Überfluss auch noch, dass sie schon gegessen hat. Außerdem wird die Kühlkette der Lebensmittel im Grunde ständig unterbrochen. Oft vergisst sie nämlich die Lebensmittel in den Kühlschrank zurückzustellen und isst dann sogar halb verdorbene Sachen.

Also schnappte ich mir unseren Angurate Tee und fuhr los. Nachdem ich ihr einen Becher Tee hingestellt hatte, sah ich, in welcher beschissenen Situation sie sich befand und machte schnell ein wenig sauber. Ich wollte auf keinen Fall, dass meine Mutter an diesem Tag alleine zu Hause sitzt.  Also lautete die Devise: Abwarten und Tee trinken. Nachdem wir das getan hatten, ging es meiner Mutter tatsächlich ein wenig besser und sie war bereit mitzukommen. Jetzt musste ich sie nur noch ein wenig herrichten. Was hätte ich dafür gegeben, wenigstens einmal in meinem Leben die bezaubernde Jeannie sein zu dürfen. Aber ich musste improvisieren, wie immer.

Zunächst suchte ich die gute, neue, weite, schwarze Feincordhose meiner Mutter. Aber ich fand sie einfach nicht. Schließlich sah ich, dass die gesuchte Hose bereits am „Mann“ bzw. an der Frau war. Tatsächlich, meine Mutter trug diese Hose, was ich aber nicht erkennen konnte, weil das gute Stück inzwischen alles andere als gut, neu, weit und schwarz aussah.

Eines ist mir sofort klar geworden: Meine Mutter hat die von ihr zunächst abgelehnte Hose inzwischen voll ins Herz geschlossen. Sie trägt keine andere mehr, allein schon deshalb, weil ihr fast alle anderen Hosen zu klein geworden sind. Ich werde ihr bald eine neue Hose kaufen müssen.

Als wir das geklärt hatten, wollte sie den bunten Jacquard Pullover mit Norweger-Muster partout anbehalten. Okay, dachte ich, dann nehme ich die weiße Bluse, die schwarze Glitzerweste und die dicke schwarze mehrreihige 50er Jahre Schmuckstein-Halskette eben mit und versuche es bei uns zu Hause noch mal mit dem Umziehen. Vielleicht kann ich sie dann noch ein bisschen aufpeppen. Früher hatte sie sich an Weihnachten immer gerne in Schwarz Weiß gekleidet.

Als wir schließlich bei uns ankamen, war es schon sehr spät und ich hatte sofort, trotz Vorbereitung und Hilfe meines Mannes, alle Hände voll zu tun, das Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Unsere Tochter und ihr Freund nahmen sich meiner Mutter an und beantworteten bereitwillig und unaufhörlich dieselben Fragen. Als Ablenkung zeigten sie ihr auch immer wieder alle Geschenke.

Als wir am Mittagstisch saßen, sagte meine Mutter aus dem Nichts heraus zu meinem Mann, dass er den dicken Schinken aber unmöglich mit ins Bett nehmen könne. Das wäre viel zu anstrengend, den die ganze Zeit hochzuhalten. Welchen Schinken?, dachten wir. Es gab Rinderbraten und im Bett wird sowieso nicht gegessen. Wir sahen uns irritiert an, bis wir begriffen hatten, wovon sie eigentlich sprach. Sie meinte das dicke Buch, dass mein Mann von unserer Tochter bekommen hatte. Ja, demente Menschen bekommen Gedankensprünge hin, da kommt kein Normalsterblicher hinterher.

Nach dem Mittagessen ging es meiner Mutter viel besser und ich schaffte es, ihr die weiße Bluse anzuziehen. Als sie in den Spiegel sah, fiel ihr auf, wie sauber und weiß die Bluse strahlte. Ich sagte ihr, dass ich das gute Stück neulich bei mir eingeweicht und gewaschen hätte. Dann sah sie wieder in den Spiegel und meinte: „Aber mein Haar brauche ich nicht zu waschen, das ist weiß genug.“ Da kann ich nur sagen, wo sie recht hat, hat sie recht. Der muffige wild gewordene Handfeger auf ihrem Kopf ist weiß genug. Ihr wesentlich jüngerer Bruder brachte es einmal folgendermaßen auf den Punkt: „Wie siehst du denn aus, Margret, hast du dich von deinem Freundeskreis verabschiedet?“

Gut, dass man eine Familie hat, die einen liebt. Sie sagen zwar unbequeme Wahrheiten, aber man ist nicht so allein, was an Weihnachten besonders bitter wäre. So saßen wir also  alle in schwarz weiß gekleidet friedlich am Kaffeetisch. Ich war froh und erleichtert, dass wir ohne weitere Zwischenfälle  soweit gekommen waren. Alles war festlich geschmückt und erstrahlte im Glanz der Lichter. Wer denkt in einem solch kostbaren Moment schon an die Frisur.

­­Abends spät konnte ich endlich auf der Couch sitzen und durchatmen. Meine Mutter hatte ich inzwischen wieder nach Hause gebracht, umgezogen und vor den Fernseher gesetzt. In meinem Handy sah ich nun Weihnachtsgrüße und -fotos mit ganzen Familien in bunten Weihnachtspullovern mit Tannenbaum-Hintergrund. Und mir wurde schlagartig klar, dass meine Mutter mit ihrem Pullover voll trendy gewesen wäre. Ich fragte mich, warum ich ihr eigentlich die festliche schwarz-weiße Kleidung angezogen hatte. Manchmal sollte man den Dingen einfach ihren Lauf lassen.

Als ich meine Mutter am nächsten Tag anrief, sagte sie, es gäbe gerade einen schönen Film im Fernsehen. Es ist mit Fiffy. Ach, ein netter Hundefilm, dachte ich, und wollte sie nicht stören. Dann sah ich in die Programmzeitung und musste laut lachen. Zu Weihnachten gab es natürlich Sissi, was sonst. Ich hätte es wissen müssen. Jedes Jahr läuft im Grunde dasselbe Fernsehprogramm. Auch an Silvester. Da heißt es dann wieder: Dinner for one. Natürlich in Schwarz Weiß, ohne bunten Weihnachtspullover, eben ganz klassisch.

Ich frage mich nur, ob die Mitglieder des Frauenbundes für alkoholfreie Kultur dieses beliebte Bühnenstück überhaupt anschauen und darüber lachen dürfen. Ich werde es jedenfalls gemeinsam mit meinem Mann tun. In diesem Sinne: Prosit Neujahr!!!