Seebestattung für ein neues Gebiss

Ich sehe am entfernten Strand zwei Surfer. Warum ist der Anblick nur so ungewohnt? Jetzt weiß ich warum. Sie stehen auf großen „altmodischen“ Surfbrettern und halten sich große „altmodische“ Segel vor den Körper. Ich frage mich, kann man das heute schon als Vintage bezeichnen? Sonst sieht man hier nämlich ausschließlich Kitesurfer.

Einer der beiden Vintage-Sportler fällt bei jedem Wendemanöver mitsamt seinem Segel ins seichte Wasser. Aber er kann immer wieder gut aufsteigen, so flach wie es dort ist. Ideal für Anfänger. Hier gibt es für jeden die passende Freizeitbeschäftigung.

Ein Segelboot schaukelt auf dem Meer wie ein Schaukelpferd. Am Jachthafen sieht man auch Wohnmobile. Viele bleiben dort stehen, weil sie nicht wissen, dass man bei uns vorbeifahren darf. Nach sechshundert Metern kommt ein großer Wendeplatz mit schöner Aussicht und dem Knallert-Verbotsschild. Erst hier ist die Sackgasse zu Ende. Andere wissen aber von diesem Geheimtipp; täglich fährt das eine oder andere Auto an unserem höher liegenden Haus vorbei, auch Wohnmobile oder Motorräder. Letztere sind in Dänemark viel leiser als bei uns. Die Dänen mögen wohl keinen Knallert-Krach. Also, geht doch!

Während der Fahrt schauen alle immer starr nach rechts auf unser Haus und auf mich. Soldaten bei einer Parade könnten ihren Blick nicht besser seitlich gerichtet halten. Ich möchte ihnen dann immer zurufen: „Halloho, auf der anderen Seite ist das Meer!“ Sie fahren weiter. Aber dann wird die Straße immer enger, zum Teil ragen dann auch noch hohe Büsche rechts und links in die Fahrbahn; und siehe da, viele Urlauber trauen sich nicht weiterzufahren und kommen rückwärts wieder bei uns vorbei. In diesem Fall sind sie in Gedanken wieder bei ihrem geliebten Wohnmobil und schauen eisern in ihre Rückspiegel.

Einmal fuhren immer wieder Autos vorbei, dann sogar ein Bus. Eigenartig: alltags vormittags, keine Freizeitkleidung. Nach einiger Zeit kamen sie alle im Konvoi wieder zurück. Was wollten die da? Mein Mann hatte eine Erklärung: Sie waren bei einer Seebestattung!

Da erinnere ich mich an den inzwischen verstorbenen Lebensabschnittsgefährten meiner Mutter, der sich bei einer stürmischen Seebestattung (inklusive Catering) übergeben musste. Sein neues Gebiss war dabei ebenfalls über Bord und für immer von ihm gegangen.

Auf der Rückfahrt war er dann sehr schweigsam, ich denke nicht nur aus Pietät und Takt.

Krabbelfreie Zone

Als ich heute erwachte, sah ich in den hellblauen Himmel mit seiner blass weißen Marmorierung. Das Bett steht direkt am Fenster und ein blühender Holunderzweig guckt herein. Durch den großen Wohnraum scheint die Sonne ins Haus, in dem alles offen ist (es gibt zwei Schiebetüren, die wir nicht rauslassen). Man hört Meeresrauschen durch den Spalt des Fensters. Ich stehe auf und blicke aufs Meer mit seinen weißen Schaumkronen. Rechts sieht man das gegenüberliegende Ufer bis zum Ende der Bucht kaum. Ein weißes Segelschiff kreuzt in Richtung Jachthafen gegen den Wind. Mein Mann ist mit dem Fahrrad Brötchen und Erdbeeren holen gefahren. Seitdem wir hierher fahren, weiß ich wieder, wie Erdbeeren eigentlich aussehen und schmecken sollten: Rot glänzend und aromatisch, zum sofortigen Hineinbeißen.

Gestern spät sind wir noch zum Sonnenuntergang gegangen. Den Rundweg der Landzunge erst einmal rechtsherum; es ist die windabgewandte Seite an einer kleinen ruhigen Bucht. Das Wasser gluckert nur. Es duftet nach Gras und Blüten. Für mich das kostbarste Parfum der Welt. Lämmchen wackeln mit ihren Lämmerschwänzen, während sie bei ihrer Mutter trinken. Vor zwei Jahren konnten wir zusehen, wie ein Schafscherer in einem kleinen Gatter ein Tier nach dem anderen aus seinem Pelz schälte.

Über uns erstreckt sich jetzt der dunkle blaugrau schattierte Himmel. Es geht bergauf bis an die Landspitze. Unterhalb der Wolkendecke scheint die orange goldgelb leuchtende Sonne scheinwerferartig herunter und lässt das Meer glänzen. Wir sind oben auf der Spitze angekommen. Der Wind bläst uns stark entgegen und verschlägt uns den Atem. Wir sind die einzigen Menschen hier. Dann plötzlich ist die Sonne voll sichtbar. Es ist ein einmaliges Bild! Wir stehen nur wie gebannt da und trotzen dem Wind. Dann gehen wir an der Steilküste entlang zurück. Immer wieder sehen wir uns um. Das Naturschauspiel, das uns der Sonnenuntergang bietet, ist nie das gleiche.

Im Haus angekommen erwartet uns nur eine einzige Ameise, die etwas verloren auf dem weißlich getünchten Holzdielenfußboden herumkrabbelt. Offenbar hat sich bei ihr und ihren Artgenossen inzwischen herumgesprochen, dass die neuen Bewohner keine Dosen mit kleiner Öffnung und leckerem Inhalt in den Räumen verteilen, sondern stattdessen lieber mit dem Besen für eine krabbelfreie Zone sorgen. Ich nehme an, dass auch sie sich nun wie die anderen auf den Weg zu den Nachbarn machen wird, immer in der Hoffnung, dort etwas mehr Verständnis für einen hungrigen Magen entgegengebracht zu bekommen.

Schade, dass Ameisen nichts von Chemie verstehen.

Pressefrei baumelt die Seele

Ich merke, dass mir das Schreiben Lebensfreude schenkt. Es lenkt mich vom ständigen Grübeln ab, wie nichts anderes. Ab und zu schafft das ein Buch. Aber wenn ich mal ein Buch finde, das mich fesselt, dann schmilzt es in meinen Händen dahin, wie Butter in der Sonne. In diesem Jahr habe ich die 52 abgelegten Frau im Spiegel-Ausgaben meiner Mutter nicht wie sonst zum Lesen mitgenommen, und es spricht alles dafür, dass ich sie zu Hause ungelesen einfach in die blaue Tonne drücken werde.

In den Jahren zuvor hatte ich den Urlaub immer dazu genutzt, neugierig sämtliche Informationen aus diesen Zeitschriften regelrecht aufzusaugen und war dadurch gedanklich in einer ganz anderen Welt und weniger bei mir selbst verhaftet. Was man da zwischen den Zeilen sehen und lesen kann ist hübsch hässlich und irre komisch, meist mehr irre als komisch.  Damit ist jetzt Schluss! Der Urlaub gehört ganz dem Seelenbaumeln und seit Neuestem auch dem Schreiben.

Heute ist es immer noch stürmisch. Das Meer ist übersät mit weiß gesäumten Wellen. Alles Grün im Vordergrund bewegt sich hin und her. Die Blätter glänzen im Sonnenschein. Eine einzelne weiße Möwe segelt am hellblauen Himmel. Über dem gegenüberliegenden Ufer unserer Bucht ist ein weißer Wolkenkranz. Sein Weiß ist am oberen Rand wie mit einem breiten Pinsel verwischt. Links sehe ich den kleinen Jachthafen, der gut geschützt in einer der vielen Einbuchtungen liegt. Dann kommen Hügel, einer mit sandfarbener steiler Abbruchkante; sie sind dunkelgrün bewaldet oder mit hell grünen Wiesen bedeckt. Hinter dem Haus vom steilen Hügel herunter zwitschern plötzlich Vögel. Es kommt mir so vor, als wollten sie sagen: „Es ist zwar stürmisch, aber wir singen dir trotzdem etwas vor, weil du es so liebst.“ Direkt vor mir liegt der steinige Strand. Abends spät gehen wir noch einmal die wenigen Schritte zum Wasser, von dem eine frische Brise herüberweht. Das Atmen fühlt sich an, als wenn gerade kühles Wasser einen schrecklichen Durst stillt.

Es wird kaum dunkel um diese Jahreszeit. Als wir zum Haus zurückgehen, entzünde ich in Gedanken ein Feuer am Strand, und zwar an einem Stapel Zeitschriften. Bevor er in Flammen aufgeht, kann ich gerade noch einen Star und seine riesige Hollywood-Villa sehen. Da überkommt mich ein wunderbares Gefühl. Ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit hier in der Natur vor unserem Häuschen. Und dann hoppelt ein Hase vorbei und ich spüre, meine Seele ist angekommen.