Meine Mutter mag Quantität und Schnelligkeit. Sie verschlang früher Unmengen von Büchern, konnte sich hinterher jedoch grundsätzlich nicht mehr an die Handlung erinnern. Das lag vielleicht auch daran, dass sie öfter mal ganze Seiten überblätterte. Die Handlung war ihr eigentlich auch nicht so wichtig, sie lieh sich ständig Bücher und musste außerdem den „Lesestoff“ von drei Buchklubs durcharbeiten. Da kann man schon mal ins Trudeln kommen. Mit dem Nachdenken hielt sie sich nie auf und sah schon immer grundsätzlich alles nicht so eng.
Abwarten, war nie ihr Ding. Wenn wir früher mit der ganzen Familie einen Film schauten – das kam selten genug vor – schaltete sie den Fernseher bereits aus, sobald sie der Ansicht war, der Film sei zu Ende; sie stand einfach auf, ging zu dem Gerät und drückte auf den Knopf (damals gab es noch keine Fernbedienung). Wenn wir dann protestierten und den Fernseher schnell wieder einschalteten, lief der Film manchmal noch eine ganze Weile. Kein Wunder, dass wir Kinder so schnell wie möglich einen eigenen Haushalt gründeten. Aber auch da hatten wir mit der „Hektik“ unserer Mutter zu kämpfen.
Lud man sie zu sich ein, stand sie mindestens eine viertel Stunde zu früh auf der Matte und fing sofort an, einem im Haushalt zu „helfen“ und mit Ratschlägen zu überhäufen. Nach einem gemütlichen Beisammensein war sie dann auch wieder die erste, die drängelte, wieder nach Hause zu wollen.
Weil sie immer ein bisschen voraus und schneller ist als andere, dachte sie neulich sogar, sie sei 89 Jahre alt. Als ich ihr sagte, dass sie erst 86 Jahre alt sei, freute sich wie ein kleines Kind: „Dann lebe ich ja noch drei Jahre länger.“ Solche Momente sind herzerwärmend für mich. Über eine Logik denke ich nicht nach; das habe ich mir bei meiner Mutter schon früh abgewöhnt.
Meine Mutter war eigentlich immer unkompliziert und hilfsbereit, nie egoistisch oder unzufrieden. Sie strahlt manchmal eine enorme Lebensfreude aus und möchte noch überall dabei sein. Aber dann wird ihr bewusst, dass sie es nicht mehr kann. Das tut weh. Sie freut sich trotzdem über Kleinigkeiten und klagt nie, es sei denn, sie verlangt Geld für ihren drogenkranken Enkel von mir. Sie selber war schon immer sehr bescheiden und meint es gut mit allen, manchmal zu gut, wie wir wissen. Eine besondere Charaktereigenschaft von ihr: Sie ist nie nachtragend. Man kann sagen, dass sie ein guter Mensch ist.
Trotz ihrer permanenten Beratung und gegen ihren Rat bin ich meinen eigenen Weg gegangen und vielleicht gerade daran gewachsen. Sie sagte einmal, dass sie mich immer nur testen wollte, wenn sie versucht hatte, mich gegen meinen Willen in eine andere Richtung zu drängen. Aber daran, dass ich so überzeugt MEINEN Weg gegangen wäre, hätte sie gemerkt, dass ich das Richtige für mich getan hätte.
Diese Methode ist so unlogisch, dass sie schon wieder logisch ist. Man sollte sie allerdings nicht in Erziehungs-Ratgebern publizieren. Das könnte erzieherisch so was von nach hinten losgehen, dass aus den betreffenden Kindern im schlimmsten Fall „nichts wird“.
Aber aus meinen Geschwistern und mir ist etwas geworden und unsere liebe Mutter freut sich MIT uns und FÜR uns. Mit Tränen in den Augen wird mir gerade wieder bewusst, wie lieb ich sie habe und wie sehr sie mir eines Tages trotz allem fehlen wird.
Als Kind glaubte sie, alles alleine zu können. Ihr gehörte die Welt. Leider ist sie jetzt wieder in dieses Stadium zurückgefallen und meint, dass sie keine Hilfe bräuchte. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn sie ihre Kleidung so oft und so schnell wechseln würde, wie ihre Meinung. Und wenn sie bei der Körperpflege nicht immer ein paar Tage überschlagen würde, wie die Seiten beim Lesen. Dann könnte man einigermaßen zufrieden sein. Aber beides ist nicht der Fall, und deshalb suchen wir seit einiger Zeit nach einer passenden Lösung, während unsere Mutter kräftig dagegen arbeitet. Eine polnische Seniorenbetreuerin hat sie schon erfolgreich vergrault. Jetzt versucht der ambulante Pflegedienst sein Bestes. Er hat es nicht leicht, denn man kann sagen: Hier trifft Beratungsresistenz auf Altersstarrsinn – das macht unterm Strich Pflegegrad 3.