Seit Anfang August spricht meine Mutter ständig auf den Anrufbeantworter, dass sie „bummeln gehen“ wolle, es aber nicht könne, weil sie kein Bargeld mehr hätte. Das wäre eine Unverschämtheit! Sie wusste auch genau, wohin sie wollte, nämlich ausgerechnet in das älteste Stadtviertel meiner Heimatstadt.
Ich war verwirrt und fragte mich, weshalb sie ausgerechnet jetzt, also mit 86 Jahren plötzlich mit dem Bummeln anfangen wollte. Und wieso musste es ausgerechnet dort sein, wo sich jährlich Tausende von Touristen durchschieben und das Kopfsteinpflaster für jeden Rollator eine besondere Herausforderung darstellt?
Außerdem war Bummeln noch nie ihr Ding, weder im Sinne von Langsamkeit noch von entspanntem Shoppen. Ich wusste nicht einmal, dass dieses Wort überhaupt zu ihrem Wortschatz gehörte. Ich bin mir sogar sicher, dass es bis zu diesem Tag noch nie über ihre Lippen gekommen war. Nebenbei gesagt, im Moment zählen zu ihren am häufigsten gebrauchten Wörtern: Sparkassenkarte, Bargeld, Schuhe und schreckliche Kinder.
Inzwischen weiß ich, was sie in der schnuckeligen Touristenhochburg will – natürlich nicht bummeln. Nein, sie will ihrem drogenkranken Enkel zum gefühlten sechshundertsten Mal Geld für Schuhe geben, weil die alten „so durchgelaufen“ wären. (Wenn man bedenkt, wie oft er schon Geld für neue Schuhe von ihr bekommen hat, müsste er inzwischen eher Geld für Schuhschränke verlangen. Aber zu seinem Glück, weiß sie nichts mehr von ihren regelmäßigen Zuwendungen.)
Seitdem er ausgezogen ist und nicht mehr bei ihr wohnen darf (das Drama wurde von Amtswegen beendet), bearbeitet er sie so gut er kann bei seinen unerlaubten Besuchen. Er hat viele Tricks, um an Geld zu kommen. Aber der Schuhtrick funktionierte schon immer am besten. Als Köder dient ein durchgelaufenes, erbärmlich aussehendes Vorzeige-Paar, in das er bei Bedarf schlüpft, genau wie in seine oskarreife Rolle als Opfer der Gesellschaft. Von meiner Mutter erntet er daraufhin zunächst Mitleid und dann Geld, dass sie ihm jetzt sogar auch noch bringen möchte. Sie ist die Einzige, die auf seine Spielchen hereinfällt und auch noch glaubt, dass sie ihm dadurch hilft …
Nun arbeitet er also angeblich in dem von Touristen so begehrten Stadtviertel als Security und achtet darauf, dass „niemand etwas klaut“. Ich habe meiner Mutter angeboten, mit ihr bummeln zu gehen; aber sie hat abgelehnt.
Am BARGELDLOSEN Bummeln ist sie nicht interessiert und er sicher auch nicht an einem BARGELDLOSEN Besuch.