Mit Hausschuhen aufs Siegertreppchen

Es war mal wieder so weit. Wir hatten den ersten Mittwoch im Monat und um fünfzehn Uhr würde gegenüber die gesellige Kaffee-Runde beim Frauenbund beginnen. Bereits zwanzig Minuten vorher war meine Mutter nicht mehr zu halten. Sie ist schon immer bekannt für ihr frühes Eintreffen, was Gastgeber sehr nervös machen kann. Zum Glück hatte meine Mutter bereits ihren neuen roten Pullover an, denn mit Umziehen oder Haare kämmen darf man ihr in der „Hektik“ nicht kommen.

Da sie nur die Straße überqueren muss, zieht sie selbst bei frostigen Temperaturen grundsätzlich keine Jacke an. Und diesmal setzte sie noch einen drauf, indem sie mit ihren Hausschuhen loszog. Sie war nicht davon abzubringen, obwohl ich ihre Halbschuhe schon bereitgestellt hatte. Nein, es mussten die Hausschuhe sein. Okay, es sind Birkenstocksandalen, aber trotzdem.

Als meine Schwester ihr solche vor dreißig Jahren schenkte, lehnte sie diese kategorisch ab, um sie dann letztlich doch zu tragen. Immer nach dem Motto: Man darf doch nichts umkommen lassen, besonders wenn es so teuer ist. Und mit solchen lieb gewonnenen Pantoletten startete meine Mutter nun durch.

Ich bot ihr an, sie über die Straße zu begleiten, aber wie immer vergebens. So blieb ich an der Haustür stehen und sah ihr nach. Am Eingangsbereich des Frauenbundes, der auf der anderen Straßenseite liegt, war gerade eine andere Teilnehmerin angekommen. Auch sie bot rufend ihre Hilfe an. Aber meine Mutter lehnte ab; sie war mal wieder fest entschlossen zu demonstrieren, wie selbstständig sie ist. Zielstrebig schob sie ihren Rollator die Einfahrt hoch und steuerte zielstrebig die Straße an, während ein Auto nahte. Was hat sie vor, dachte ich? Es verschlug mir den Atem, als ich sah, was dann geschah:

Die Außenseiterin im roten Trikot setzt ihren Weg zur Straße unbeirrt fort. Überraschend legt sie mit ihrer Gehhilfe noch an Tempo zu. Wird sie es halten können? Auch der Autofahrer lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hält konstant seine Geschwindigkeit. Ganz deutlich zeichnet sich ein Zweikampf ab. Wer wird sich durchsetzen? Der Rollator geht klar in Führung und hat den Gehweg schon fast überquert. Beide Kontrahenten scheinen direkt auf einen Punkt zuzusteuern. Aber auch der Fahrzeugführer signalisiert Entschlossenheit. Die Spannung steigt. Dann doch ein kurzes Zögern des Mannes hinter dem Steuer. Kann die Rollatorfahrerin diese Chance für sich nutzen und ihren Vorsprung ausbauen? Die Spannung steigt. Das Duell läuft auf eine knappe Entscheidung in letzter Sekunde hinaus. Und da, gerade noch rechtzeitig, gelingt es der Seniorin den Rollator ruckartig auf die Fahrbahn zu puschen. Diese geschickte Strategie zwingt den Mercedes-Piloten endgültig zum Abbremsen. Die Achtundachtzigjährige kann sich souverän behaupten und entscheidet so die Zitterpartie für sich. Der Autofahrer ist damit aus dem Rennen. Mutig hat sich die Dame in Rot den Weg zum Gesamtsieg freigekämpft und sprintet nun in die Endphase.

Der Rollator holpert mit geradezu atemberaubendem Tempo vor dem stehenden Tourenwagen schnurgerade über das Kopfsteinpflaster – eine beeindruckende Performance. Auf der anderen Straßenseite manövriert die Siegerin ihr Vehikel geschickt zwischen parkenden Autos hindurch bis zur letzten Hürde, dem Bordstein. Doch was passiert jetzt? Statt den Rollator leicht anzukippen, damit die Vorderräder schon mal auf dem Gehsteig sind und sie den Rest leicht nachschieben kann, hebt sie die komplette Gehhilfe mit einem Ruck auf den Bürgersteig. Unglaublich, was uns hier geboten wird. Ein solcher Kraftakt gibt natürlich Extrapunkte in der Gesamtwertung. Diese Frau ist nicht zu bremsen, selbst mit Hausschuhen – für die allerdings Abzüge in der B-Note zu erwarten sind. Alles in allem ein knapper, aber verdienter Sieg durch perfektes Timing und vollen Körpereinsatz……….

Als meine normale Atmung wieder einsetzte, fiel mir ein, dass ich nicht Sportreporterin war, sondern genervte Tochter, die ihrer Mutter eigentlich den Rollator wegnehmen sollte. Der Autofahrer fuhr kopfschüttelnd weiter. Und ich machte dasselbe, als ich kurze Zeit später nach Hause fuhr. Mir wollte das Ganze einfach nicht aus dem Kopf gehen, und ich hoffte inständig, dass mir nicht mal so eine hyperaktive Oma vors Auto läuft. Was macht man, wenn man die Person vorher nicht sehen kann, weil sie z. B. zwischen parkenden Autos hervorprescht? Ups, genau so sieht der Rückweg meiner Mutter aus. Schreck lass nach.

Als ich noch nicht lange zu Hause war, rief meine Mutter schon an. Ich war einerseits erleichtert, dass sie den Rückweg offenbar heil überstanden hatte, aber andererseits verwundert, dass sie schon so früh wieder nach Hause gehoppelt war. Dann kam auch schon die Begründung. Sie hätte es drüben nicht lange ausgehalten, meinte sie.  „Die atmen alle, dann bekomme ich keine Luft „.

Ja, so ist das nun mal. Wo viele Menschen sind, wird auch viel geatmet. Das lässt sich wohl kaum vermeiden. Und beim Ausatmen entsteht sogenannte „schlechte Luft“, die alles Mögliche enthält. Inzwischen meint man, dass Kerzen und Menschen mehr Stickoxide produzieren als Autos. In einem Straßen-Café  an einer viel befahrenen Straße zu sitzen ist angeblich weniger gesundheitsschädlich als bei Kerzenschein an einer Adventsfeier teilzunehmen. Deshalb sollte wohl jeder Teilnahme an einer Adventsfeier eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorhergehen, besonders wenn es sich um den vierten Advent handelt.

Aber inzwischen gibt es ja LED-Kerzen und LED-Teelichte, die sogar flackern, wie man es von echten Kerzen kennt. Ich habe es damit probiert, also mit den LED-Produkten. Okay, diese künstlichen Kerzen kann man teilweise ganz gut einsetzen, aber eine Weihnachtspyramide bringen sie nicht in Bewegung, höchstens mit einem zusätzlichen Motor. Und darauf verzichte ich gerne. Es geht einfach nichts über die Atmosphäre, die warmer Kerzenschein herbeizaubern kann – er ist bisher unnachahmlich.

In meiner Kindheit erstrahlte sogar noch unser Tannenbaum im echten Kerzenschein – und wir hatten in meinem Elternhaus hohe Decken. Sie müssen sich vorstellen, wie das wirkte, wenn ein dreieinhalb Meter hoher Baum brannte, also nicht der Baum, sondern die unzähligen Kerzen an seinen Zweigen. Dann wurden Heilig Abend zusätzlich auch noch alle Kerzenleuchter bestückt und in Betrieb genommen. Die festliche Stimmung war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Vor freudiger Erregung spürten wir Kinder gar nicht, dass wir unter Einwirkung von Stickoxiden und bei akutem Sauerstoffmangel unsere Geschenke auspackten, die dafür allerdings frei von Elektrosmog waren. Vielleicht halten Sie mich für verrückt, aber ich denke, ich werde es weiterhin in der Adventszeit richtig krachen bzw. brennen lassen. Ich möchte mir wenigstens stundenweise ein Stück von dieser wunderbaren Atmosphäre meiner Kindheit zurückholen. Aber bis dahin haben wir noch ein paar Monate Zeit. Nun stehen keine Kerzen im Fokus, sondern Eier, also nicht die belasteten, sondern die versteckten. In diesem Sinne:
Frohe Ostern!