Neues Leben für Friedhofs-Abfall

Als ich vor Kurzem meine Mutter besuchte, ging ich die Straße meiner Kindheit entlang, um Kuchen für uns zu holen. Es ist die Straße, in der ich aufgewachsen bin und in der mein Elternhaus steht. Die großen Häuser sind alle so um 1890 gebaut worden, damals für jeweils eine Familie. Jetzt wohnen meistens zwei bis fünf Parteien in jedem Haus – eigentlich eine gute Sache, wenn sich wenigstens einer der Bewohner um den Außenbereich kümmert. Bei manchen Häusern klappt das aber gar nicht. Das kann man unter anderem daran erkennen, dass sehr viele Blumentöpfe mit mehr oder weniger toten Blumen die breiten Sandstein-Treppenstufen zum Hochparterre-Eingangsbereich säumen.

Im Laufe der Jahre brachte wohl immer wieder mal der eine oder andere Bewohner eine schöne Topfpflanze vom Marktplatz mit und stellte sie zur Verschönerung des Anwesens dort ab. Die Blume ging dann langsam ein und eine neue wurde danebengestellt. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Treppe unbegehbar sein wird. Davon abgesehen scheinen die Bewohner die Hoffnung zu hegen, dass die verblühten und vertrockneten Blumen irgendwann wieder zum Leben erweckt werden und neu erblühen. Dazu wäre es allerdings ratsam sie zu gießen oder eine Nenn-Tante von mir „einfliegen“ zu lassen, eine echte Pflanzen-Versteherin. Sie holte früher schon verwelkte Blumen aus dem Friedhofs-Abfall und päppelt sie zu Hause wieder auf. Aber hier würde selbst sie sagen: „Kann ich die Friedhofsblumen noch mal sehen?“

Auch das eine oder andere, von seinen Besitzern am Zaun angeschlossene Fahrrad, wartet schon jahrelang vergeblich darauf, von seinen Fesseln befreit zu werden. Jedoch auch hier kommt wohl jede Hilfe zu spät, wenn ich mir die Überbleibsel genauer ansehe. Eins der Fahrräder ist von Unkraut komplett überwuchert. Ich frage mich, wo die Menschen geblieben sind, die hier einmal ihre Fahrräder angeschlossen hatten. Vielleicht wollten sie nur Zigaretten holen gehen und sind dann in ein neues Leben geschlüpft. Aber warum sind sie dann nicht mit dem Fahrrad davongefahren? Eigenartig.

Die Vorgärten sind fast alle mit einer niedrigen Mauer eingefasst, auf der verschnörkelte schmiede-eiserne Zaunelemente angebracht sind. Vor sehr langer Zeit hatte sich in einem der Vorgärten ein Baum direkt an der Mauer selbst gesät. Er wuchs im Laufe der Jahre so groß, dass seine riesigen Wurzeln die Mauer langsam aber sicher anhoben. Die Hausbesitzer schienen lange Zeit blind zu sein.

Erst als die Mauer umzukippen drohte, wachten sie auf und ließen den Baum fällen. Aber damit war das Problem noch lange nicht gelöst. Also ließen sie die schräge, einsturzgefährdete Mauer mit einer provisorisch wirkenden Schrauben-Stahl-Konstruktion an dem Verursacher-Baumstumpf befestigen. So wurde der Verursacher zum Schadensbegrenzer. Was soll man sagen? Schrecklich blöd und doch genial!

Ein anderes Haus hat einen Efeu- und Birkenschaden. Der Baum ist bestimmt 15 Meter hoch, beschattet sämtliche Fenster der Hausfront und verliert Unmengen von Abfall (wenn auch biologisch abbaubar), der ständig weggefegt werden muss. Wie dumm ist das denn? Mit Schicksal hat das nichts zu tun. Manchmal vergessen die Menschen, dass man Dinge nicht unbedingt als gegeben hinnehmen muss, sondern auch rechtzeitig etwas gegen Spätfolgen unternehmen kann.

Birken gehören ohnehin nicht in die Stadt, sondern ins feuchte Moor, und so große Exemplare passen schon gar nicht in einen Vorgarten, in dem sie mit ihren durstigen Wurzeln häufig auch noch Abwasserrohre beschädigen. Aber warum sollte irgendjemand klüger sein als die von ihm gewählten Politiker? Wie vorausschauend denken die denn?

Ich habe den Eindruck, Politiker sehen ihre Aufgabe zunehmend darin, erst einmal abzuwarten und den Bürgerinnen und Bürgern gebetsmühlenartig zu versichern, dass alles in Ordnung sei und sie alles im Griff hätten. Wenn dann irgendwann akuter Handlungsbedarf besteht, thematisieren sie ganz überrascht diese im Grunde vorhersehbare Entwicklung und beschäftigen sich intensiv mit Schuldzuweisungen. Köpfe rollen und oder schauen dumm aus der Wäsche bzw. aus Schlips und Perlenkette. Dann wird die ach so vertraute Raute gezeigt, die irgendwie eine beruhigende Wirkung auszuüben scheint. Das ist ein Phänomen, wenn man bedenkt, dass dabei 80 % der Finger nach unten gerichtet sind. Aber das ist wohl noch niemandem aufgefallen.

Fange ich etwa gerade wieder an zu grübeln? Nein ich schreibe über die Straße meiner Kindheit. Ja mein Elternhaus liegt mitten in der Stadt. Inzwischen ist die Wohngegend wieder begehrt und manche Häuser werden komplett renoviert. Ich gehe immer gerne durch die Straße und schaue mir an, was sich so tut. Dann stelle ich mir vor, wie schön es wäre, wenn alle Häuser wieder so aussehen würden, wie vor über hundert Jahren, mit den Stuckfassaden, den Säulenaufgängen und den hohen Fenstern.

So ging ich weiter bis an die Ecke zum Tante Emma Laden, der jetzt ein unentbehrlicher Onkel Ösyl-Laden ist. Dort sahen mich makellos schöne Himbeerkuchen-Stücke an, denen ich nicht widerstehen konnte. Der klare Tortenguss auf den wohlgeformten Himbeeren glänzte verführerisch.

Aber man soll eben nicht nur nach dem Äußeren gehen. Zu Hause am Kaffeetisch glaubte ich, meinen Geschmacksknospen nicht zu trauen. Der Guss schmeckte, als hätte der beliefernde Bäcker Parfum hineingeschüttet. Ich denke, der Bäcker musste verliebt gewesen sein oder unter Körpergeruch leiden, oder beides. So bin ich einmal wieder desillusioniert worden, was Kuchen kaufen betrifft. Für mich allein ist das kein Problem, weil ich inzwischen sowieso lieber ein Sandwich oder ein Brötchen zum Nachmittagstee mag.

Und so träumte ich von einer Etagere voller Gurken- und Kresse-Sandwiches, während meine Mutter mich immer wieder dasselbe fragte.

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