Meine Mutter hatte sich wahnsinnig über die Weihnachtskarte meiner Schwester gefreut. Einerseits wohl, weil der alljährliche Jahresrückblick dieses Mal in Reimform verfasst war, andererseits, weil nur positive Erlebnisse zum Zuge kamen. Also fragte sie mich bei meinem letzten Besuch immer und immer wieder, ob sie mir die »Sternstunden des Jahres« mal vorlesen soll. Ich sagte immer und immer wieder ja, denn eine vorlesende Mutter ist eine gute Mutter.
Wenn ich noch Kind wäre, hätte ich jetzt keine Sorge mehr, was ich vor dem Tannenbaum aufsagen soll.
Zwischendurch ging meiner Mutter immer wieder der halb abgeschnittene Finger eines ihrer Enkelkinder durch den Kopf und sie ließ für kurze Zeit das Vorlesen sein. Es war gemütlich, wir tranken Nescafé, während sich die Weihnachtspyramide drehte und die Lieblings-Trödel-Show im Fernsehen lief. Das Radio in der Küche hatte ich mir dann erlaubt auszuschalten. Man muss aufpassen wegen der Reizüberflutung, oder besser gesagt ICH MUSS AUFPASSEN, nicht meine Mutter. Mit anderen Worten, der Nachmittag war gar nicht schlecht. Meine Mutter hatte sich über meinen Besuch und die gemeinsame Zeit gefreut und das tut mir immer gut.
Der Kühlschrank ist nach unserem gemeinsamen Einkauf mit dem Rollator, einschließlich Rollator-Sprint über die Riesenkreuzung, wieder sinnvoll aufgefüllt – zumindest bis zu meinem nächsten Besuch.
Wenn drei Fahrbahnen gleichzeitig während einer Grün-Phase überquert werden müssen, gibt es bei meiner Mutter kein Halten mehr. Mit einer ruckartigen Bewegung puscht sie ihre Gehhilfe plötzlich nach vorn. Es fehlt nur noch, dass sie „Hüh“ ruft. Leider hat der Rollator kein Rentier vorgespannt. Vielleicht sollte meine Mutter nicht so viele Weihnachtsfilme schauen.
Die eingesiegelte Knipp-Scheibe (eine Riesen-Grützwurst, die vor allem in Niedersachsen und Bremen scheibenweise gebraten und verzehrt wird), die vom „ambulanten“ Bauern geliefert wurde und schon lange im Kühlschrank auf ihre Erlösung wartet, wird immer dunkler. Bei meinem nächsten Besuch werde ich sie verschwinden lassen, sofern ich es schaffe. Offiziell geht in dieser Beziehung ja nach wie vor nichts.
Ich weiß nicht, was gefährlicher für meine Mutter ist, eine Lebensmittelvergiftung oder das Überqueren der großen Kreuzung einschließlich Straßenbahnschienen bei ROT.
Vom Pflegedienst ist jetzt ein neuer Duftspender in die Toilette eingesetzt worden, der es echt in sich hat. Die Geruchs-Verbesserer-Entwicklung scheint echte Fortschritte gemacht zu haben. (Kein Wunder, es gibt schließlich immer mehr Menschen, die nicht mehr ganz dicht sind und nur noch wenig bis gar nichts mehr riechen können.)
Die Einmalwaschlappen finden leider nicht die erhoffte Akzeptanz bei meiner Mutter. Sie bevorzugt nach wie vor Stofflappen, leider immer ein- und denselben, wenn man ihn nicht heimlich entsorgt. Aber sonst haben wir alles im Griff auf dem sinkenden Schiff. Ich sage mir: „Keine Panik auf der Titanic.“
Wenn mich jemand fragen würde, ob man als Angehöriger mit diesen ganzen Umständen leben kann, sage ich: „Ja, es ist möglich und ich werde es auch weiterhin tun, denn ich halte es für übertrieben, NUR deshalb mit dem Leben aufzuhören.“
In diesem Sinne wünsche ich allen Bloglesern frohe Weihnachten.