Vom „Nieten-Puper“ zum Uhrenflüsterer

Mein Vater war technisch sehr begabt und tüftelte gern. Er wollte Ingenieur werden. Nach der Schule brauchte er sich aber keine Gedanken über seine Ausbildung zu machen; das übernahm die Wehrmacht. Danach ging es bald ab in den Krieg, als Funker, nacheinander an zwei verschiedenen Fronten. Beim ersten Mal hatte er Glück im Unglück, dass der Impfstoff, mit dem er geimpft wurde, verdorben war, und er deshalb, schwer krank mit Blutvergiftung und offener Wunde, kurz vor der feindlichen Übernahme, in einem Güterwaggon aus Russland zurücktransportiert wurde. Das Schild an seinem Lazarett-Bett mit der Aufschrift „nicht transportfähig“ hatte er mit letzter Kraft verschwinden lassen.

Irgendwann fand er sich in weißen Laken wieder. Das Gefühl hat er nie vergessen.

Nachdem er wieder gesund war, wurde er sofort wieder an die nächste Front geschickt und wurde von den Amerikanern „einkassiert“. Als er aus kurzer Gefangenschaft zurückkam, wurde er für das Nieten-Pupen eingeteilt – dabei musste er Nieten aus zertrümmerten Eisenbrückenteilen herausschlagen. Sein alter Freund Peter erlöste ihn bald von dieser eintönigen Arbeit, indem er ihn für bessere Aufgaben zu Siemens holte.

Mein Vater war kein Uhrmacher, aber er interessierte sich für Uhren. Eine riesige Uhr, die nicht lief, reparierte er nebenbei. Er hängte sie sich neben seinen Arbeitsplatz und beobachtete sie immer wieder, nachdem er daran herumgetüftelt hatte. Auf die Weise brachte er sich das Uhrmacher-Handwerk selbst bei und die Uhr wieder zum Laufen. Man stellte allgemein fest: Bei ihm tickte es ganz sauber.

Von dem Zeitpunkt an, war er der inoffizielle Uhren-Flüsterer von Siemens und wurde oft zu großen Uhren gerufen, die ihrer Zeit voraus waren oder gar nicht mehr liefen.

Später stattete mein Vater sein Elternhaus mit Uhren aus. Bis heute hängen in jeder Etage im Treppenhaus und in den Küchen und Bädern große Uhren, die von einer Zentraluhr im Keller gesteuert werden.

Beruflich hatte er mit Telefonanlagen zu tun. Deshalb stattete er unser Haus auch gleich großzügig mit diesem Fortschritt aus. In jedem Zimmer stand ein Haustelefon, mit dem wir interne Anrufe tätigen konnten. Ich hatte zwar nie ein eigenes Zimmer, aber solange ich denken kann, ein eigenes Telefon am Bett – genauso wie meine kleine Schwester, mit der ich mir das Zimmer teilen musste.

Unsere Mutter weckte ihre vier Kinder morgens telefonisch vom Küchenanschluss aus. Auch zum Essen musste man nicht auf Gong-Schlag erscheinen, sondern auf telefonische Einladung. Und eine Klingel-Gegensprechanlage mit automatischem Türöffner an der Haustür hatten wir schon, als andere von dem Begriff noch nie gehört hatten.

Auch hing schon damals in jedem Raum ein Lautsprecher an der Wand. Die wurden alle zentral von einem Radio gespeist. Ich hatte also keinen Einfluss auf die Wahl des Senders. Aber wozu auch? Vermutlich hätten die anderen Sender auch nur ein Programm zum Abschalten gebracht. Es kam mir so vor, als ob die wenigen Sender, die es damals gab, alles und jeden bedienten; sie sendeten Landfunk, Börsenberichte, Durchsagen für Hafenarbeiter, Schulfunk, Kochrezepte, Gottesdienste, Fußballkommentare, Hörspiele, Instrumentalmusik, Klassik und Wunschkonzerte in bunter Reihenfolge – also praktisch all das, was Kindern am Ohr vorbeigeht. Selten gab es sogenannte Unterhaltungsmusik wie Schlager. An bestimmten Feiertagen hätte man allein vom Radiohören Depressionen bekommen können.

Es bestand damals also nicht die Chance, dass man mit seiner Lieblingsmusik verwöhnt wurde, wenn man überhaupt welche hatte. Aber ich muss zugeben, andere Kinder in meinem Alter hatten noch nicht einmal einen eigenen Lautsprecher, geschweige denn ein Radio. Die konnten nicht mitreden, ich konnte immerhin ausschalten.

Und dann gab es da noch die Kontrollleuchte über der Badezimmertür. Wenn das kleine rote Licht brannte, mussten wir nicht erst die Türklinke drücken, um herauszufinden, dass sich bereits jemand im Bad aufhielt. Wir sahen schon von Weitem, dass wir noch warten mussten. Man kann sagen, technischer Fortschritt war unser zweiter Nachname. In dieser Hinsicht waren wir unserer Zeit weit voraus, aber in Sachen fortschrittliche Erziehung hinkten meine Eltern eher etwas hinterher. Aber das ist eine andere Geschichte.

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