Entgleisungen unter Wäscheleinen

Die Eisenbahnanlage auf unserem Dachboden spricht Bände. Es fing alles mit einem Weihnachtsgeschenk für meinen ältesten Bruder an, der damals noch nicht einmal ZWEI Jahre war! Damit gespielt hat mein Vater – also mit der elektrischen Eisenbahn, nicht mit meinem Bruder.

Vorher konnte man noch gut auf unserem Dachboden Wäsche aufhängen. Das beschränkte sich schleichend auf nur noch zwei Leinen über dem schmalen Gang vor der Eisenbahn-Anlage, die ständig wuchs und weiterentwickelt wurde. Überall Gleisanlagen, beschrankte Bahnübergänge, Bäume, eine komplette Kleinstadt, natürlich mit Bahnhof, Laternen, Straßen, beleuchteten Häusern, einer Tankstelle und einem angrenzenden Güterbahnhof.

Das Ganze zeigte sich vor einem riesigen Gebirge aus Pappmaschee mit mehreren Tunneldurchfahrten. Personenzüge hatten Innenbeleuchtung; Güterzüge mit rauchenden Schornsteinen konnten von einer Anlage mit Schüttgut, wie winzigen Kohlen, auf Knopfdruck befüllt werden. Mein Vater hatte ein Schaltpult mit Knöpfen und Kippschaltern, von wo aus er alle Weichen stellen und auch alles andere steuern konnte.

Wenn er alle Züge gleichzeitig fahren ließ, gab es schon mal die eine oder andere Entgleisung. Aber das war kein Problem für ihn. Er hatte sich eine flache Rollliege gebaut, mit deren Hilfe er, auf dem Rücken liegend, unter der Anlage hindurchfahren, in der dafür eingerichteten mittigen Öffnung auftauchen und die Züge wieder aufstellen konnte. Das Teil war sehr praktisch, auch beim Strippen Ziehen und Löten unterhalb der Anlage.

Wir Kinder nutzten die Rollliege gerne, um bis zu der Öffnung zu fahren und dort mitten in der Kleinstadt aufzutauchen und stehend zu beobachten, wie die Züge überall um uns herumfuhren. Und wenn wir Lust hatten, spielten wir dort mit den kleinen Modell-Autos.

Die Krönung war, wenn mein Vater abends oder wenn Gäste da waren, bei voller Nachtbeleuchtung der Anlage, alle Züge fahren ließ. Dann konnten wir sie in der Dunkelheit von der Mitte aus beobachten – ich meine die Züge, nicht die Gäste – während tausend kleine Lichter funkelten. Die Geräusche und das Tuten der Züge habe ich heute noch im Ohr. Es war überwältigend.

Aber der Dachboden hatte auch noch andere Reize. Manchmal fuhren wir komplett unter der Anlage durch und tauchten erst hinter dem Gebirge wieder auf. Dort stand ein großer Überseekoffer mit alten Klamotten, mit denen wir uns verkleiden durften. Das Gebirge war unsere Umkleidekabine, Höhle und Versteck zugleich. Die Stauballergie war zu dem Zeitpunkt noch nicht erfunden.

Dass meine Mutter kaum noch Wäsche aufhängen konnte, störte sie weniger als die Tatsache, dass mein Vater eines Tages meinte, dringend aufrüsten zu müssen. Militärfahrzeuge wie Panzer wurden angeschafft und bemalt. Kein Mensch verstand ihn, aber wie heißt es so schön: Manchmal muss ein Mann eben haben, was ein Mann eben haben muss.

Meine Mutter war not amused. Es kam zu bilateralen Gesprächen und harten Verhandlungen mit ausbleibender gemeinsamer Lösung. Die diplomatischen Beziehungen zwischen meinen Eltern wurden kurzzeitig abgebrochen.

Das nennt man Ehekrach.

Aber die Panzer waren bereits angeschafft und zierten wenig später die Anlage. Angesichts der angespannten Lage konzentrierte sich meine Mutter beim Wäscheaufhängen nur noch auf die gespannten Wäscheleinen.

Das nennt man Toleranz, was nichts anderes bedeutet als Duldung.

Was sagte meine Mutter vor Kurzem so treffend – in solchen Momenten zeigt die Demenz ihre angenehm komische Seite: „Was ist noch Scheidung? Ach ja, das ist, wenn einer der Teilnehmer nicht mehr mitmacht.“

Meine Mutter hatte bis zum Tode meines Vaters mitgemacht. Was zählen schon ein paar winzige Modell-Panzer gegen die Liebe.

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