Als Betreuerin meiner Mutter bekam ich Post von ihrer Versicherung. Es ging um das Haus, das schon seit Jahr und Tag bei genau dieser Gesellschaft versichert war. Der zuständige Sachbearbeiter bedankte sich für die Treue und wollte weiterhin alles daran setzen, meine Mutter als zufriedene Kundin zu begleiten.
Außerdem informierte er darüber, dass die Versicherung ihre Produkte laufend der veränderten Marktsituation anpassen müsste. Da der Vertrag meiner Mutter seit mehreren Jahren nicht aktualisiert worden sei, wäre ihr Wohngebäude-Versicherungsschutz nicht mehr zeitgemäß. Es würde sich bei ihr um ein veraltetes Produkt handeln. Moderne Versicherungsprodukte bekämen eine Prämienanpassung. Das „unmoderne Produkt“ meiner Mutter würde die Gesellschaft vom Markt nehmen. Aber großzügigerweise machen sie uns ohne Überprüfung ein individuelles Umstellungsangebot. Wir dürfen den Vertrag auf den neusten XXL-Tarif anpassen.
Wow! Wie lange muss ein Mensch BWL mit Schwerpunkt Marketing studiert haben, um eine Preiserhöhung so rüberbringen zu können? Aber, was mich nach dem Lesen des Briefes hauptsächlich beschäftigt hat: Warum ist eine Versicherungspolice ein Produkt?
Bis jetzt dachte ich immer, ein Produkt sei ein Ergebnis oder ein Ertrag. Mit anderen Worten, dass da etwas hergestellt wurde oder etwas herausgekommen ist. Wenn ich an ein Produkt denke, sehe ich vor meinem geistigen Auge z.B. Stiefeletten, Klamotten oder Taschen. Andere sehen z.B. Zigaretten, Karossen oder Flaschen. Man denkt also üblicherweise an Gegenstände. Das war gestern. Marketing sei Dank, wird heute einfach alles in Produkte aufgeteilt. Genauso wie Menschen in Zielgruppen eingeteilt werden. Die Menschen in den Zielgruppen nennt man Konsumenten, zu gut deutsch Verbraucher.
Oft wissen die dummen Zielgruppen aber gar nicht, was sie so alles brauchen; bis man es ihnen sagt. Und zwar besonders oft und meistens penetrant und meistens laut. Das nennt man Promotion, zu gut deutsch: Werbung. Es gibt schöne Werbung und weniger schöne Werbung. Die Geschmacklosigkeit kennt dabei keine Grenzen. Es bedarf einiger Einwirkzeit, bis die Zielgruppen endlich anbeißen. Dann fangen sie an, diese Produkte zu kaufen und meistens sogar zu (ver-)brauchen. Das nennt man Konsum. Nach einer Weile fragen sie sich dann sogar, wie sie vorher ohne diese Produkte (über)leben konnten. Das nennt man Abhängigkeit. Bingo! Es hat geklappt. So geht Marketing, und zwar mit jedem Produkt.
Will man sich versichern, kauft man also ein Versicherungsprodukt. Will man Geld sparen oder anlegen, kauft man ein Finanzprodukt. Selbst wenn dabei im Endeffekt Geld verloren wird, wie z.B. bei Aktien, Immobilien-Fonds oder Schiffsbeteiligungen, ist das ja auch ein Ergebnis, wenn auch ein schlechtes Ergebnis. Der Anbieter der Produkte kann in jedem Fall ein gutes Ergebnis für sich verbuchen. Das nennt man Provision.
Auch Krankenhäuser müssen heute kostendeckend arbeiten und spezialisieren sich deshalb auf bestimmte Produkte. Braucht man eine neue Hüfte, ein neues Knie oder eine Magenverkleinerung, also ein Dienstleistungsprodukt aus dem medizinischen Bereich? Dann wird man als Patient umworben. Dafür werden in Krankenhäusern Verkaufsveranstaltungen, ähh Vorträge gehalten. Am beliebtesten sind bei den Anbietern, ähh Ärzten und Kliniken solche Erkrankungen, die wie am Fließband durchlaufen und gut abzurechnen sind, die also als Fallpauschale in der Preisliste der Krankenkassen aufgeführt sind. Für diese Produkte zahlen die Krankenkassen, die sich in der günstigen Position befinden, Rabatt abziehen zu dürfen.
Krankenkassen sind Versicherungen, denen das Geld, über das sie verfügen dürfen, so gut wie automatisch zufließt. Das nennt man Krankenversicherungspflicht. Sie wollen, dass es den Menschen gut geht, und gehen mit gutem Beispiel voran, insbesondere bei ihren Vorständen und Angestellten. An Gehältern und Ausstattung wird nicht gespart.
Wir waren beim Produkt. Nun stellt sich die Frage, ob es vorteilhafter ist, an der Erkrankung zu leiden, für die ein passendes Produkt angeboten wird. Wie auch immer, mit oder ohne Operation. Wenn die Krankenhäuser mit ihren Produkten durch sind, müssen sie die Leute in jedem Fall schnell wieder loswerden. Das kann folgendermaßen aussehen: Zuerst wird man in die Röhre geschoben, dann guckt man in die Röhre und es heißt: „Nichts geht mehr.“ Das nennt man Rationalisieren.
Seine Krankheit kann man sich nicht aussuchen, wie es so (un-)schön heißt. Aber eines kann man tun: Erkrankungen vermeiden. Da weltweit inzwischen die vermeidbaren Erkrankungen überwiegen, liegt also viel Potenzial darin, sich ein Produkt aus dem medizinischen Bereich zu er-sparen. Es ist eine echte Chance, Leute!
Produkte sind Fluch und Segen zugleich. Auf die meisten können oder möchten wir nicht mehr verzichten. Die ganze Welt ist voller Produkte, alles dreht sich um sie. Sogar wir Menschen sind Produkte, Produkte unserer Eltern, unserer Erziehung und Umwelt. Man kann sagen:
„Geld regiert die Welt! – Aber Produkte beherrschen sie!“