Wenn sich hyperaktive Mütter in Kartoffelsäcke verwandeln

Es dürfte inzwischen wohl einwandfrei feststehen, dass meine Mutter ziemlich dement ist. Zum Glück reicht es bei ihr aber noch für ein paar wichtige Dinge des täglichen Lebens. Sie kann zum Beispiel etwas in ihren Kalender schreiben, weiß jedoch nicht, welchen Tag wir „heute“ haben. Sie kann den Fernseher betätigen, drückt aber immer wieder mal die falschen Knöpfe, wegen der zeitverzögerten Reaktion des Gerätes.

Abwarten war noch nie ihre Stärke. Sie kann telefonieren, vergisst jedoch, dass sie schon mehrmals angerufen hat. Ja das Anrufen ist ihre Hauptbeschäftigung und fällt ihr leicht. Nur beim Annehmen eines Anrufes gibt es neuerdings Probleme. Welches Telefonsymbol soll sie drücken, das rote oder das grüne? Leider entscheidet sie sich ab und zu für das rote, sprich sie drückt den Anruf weg.

Von alledem scheinen ihre Freundinnen bisher nichts bemerkt zu haben, zumal die Stimme meiner Mutter am Telefon immer sehr klar ist und sie einen selbstbewussten und vor allem selbstbestimmten Eindruck macht. Deshalb wurde sie jetzt auch wieder zu einem Kaffeekränzchen eingeladen, das an einem Freitag stattfinden sollte.

Montag vor dem Treffen freute sie sich noch über die Einladung. Am Dienstag hielt sich die Freude schon in Grenzen und schrumpfte dann von Tag zu Tag. Gleichzeitig breitete sich langsam aber sicher Unsicherheit aus, aber ich redete ihr gut zu. Schließlich sollen demente Menschen doch unter Leute kommen und ein Treffen mit „alten“ Freundinnen ist eine gute Abwechslung zum einsamen Alltagstrott. Trotzdem sagte sie mir am Donnerstag weinend, dass sie Angst hätte, aber ich konnte sie beruhigen.

Am Freitag fuhr ich schon frühzeitig zu ihr, um ihr die Haare zu schneiden und ihr zu helfen sich fertigzumachen. Immer wieder sagte ich ihr, dass alles gut sei und ich, wie gewünscht, auch ein Geschenk für die Gastgeberin besorgt hätte. Und dann fuhren wir endlich los.

Die Freundinnen meiner Mutter sind alle grundverschieden, so verschieden wie Menschen eben sein können. Es ist alles dabei von warmherzig bis frostig, von bescheiden bis großspurig, von nett bis unfreundlich, von herzlich bis hochnäsig. Die Freundin, die mit den jeweils ersten Adjektiven gesegnet ist, hatte eingeladen.

Als wir vor ihrer Tür standen, lächelte sie mir freundlich zu, nahm meine Mutter herzlich in Empfang und freut sich über das Blumengeschenk. Wir waren ihre ersten Gäste. Ich verabschiedete mich gleich wieder, damit ich noch etwas von der mir verbleibenden Regenerationszeit hatte.

Als ich drei Stunden später frisch gestärkt erneut klingelte, um meine Mutter abzuholen, kam die Freundin mit den jeweils zweiten Adjektiven an die Tür, weil sie die Mobilste von allen ist. Sie kommt noch völlig ohne Rollator aus. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles. Sie war ziemlich genervt. Aber das überraschte mich ebenso wenig, wie es mir etwas ausmachte.

Eine andere Freundin, die ebenfalls zu Gast war, fragte mich, ob ich sie mitnehmen und bei ihr zu Hause absetzen könne. Das tat ich selbstverständlich gern, aber mit dem Hinweis, dass sie hinten in meinem kleinen Zweitürer sitzen müsse. Sie versicherte mir, dass das kein Problem für sie sei.

Um Platz zu schaffen, bugsierte ich unsere Nordic-Walking-Stöcke vom hinteren Fußraum in den Kofferraum. Ich war also für einen kurzen Moment abgelenkt und schon hatte sich meine hyperaktive Mutter aus falsch verstandener Höflichkeit ihrer Freundin gegenüber auf den Rücksitz meines Autos gequetscht. Da war nichts mehr zu machen. Okay, wird schon schiefgehen, dachte ich, und schnallte sie an.

Die Freundin wollte mir Bescheid sagen, wenn wir bei ihrem Haus angekommen wären, genauso wie es einmal meine Mutter tun wollte, als ich sie dort hinfahren sollte. Soviel zur Theorie. Auch ich konnte in der sehr langen Allee mit den weit zurückliegenden Häusern in der regennassen Dunkelheit nichts erkennen und schon gar nicht irgendeine Hausnummer. Was das betrifft, habe ich schon viel erlebt und viele Leute darauf hingewiesen, dass ihre Hausnummer nicht zu erkennen oder gar nicht erst vorhanden wäre. Über die Antworten, die ich da bekam, muss ich immer noch den Kopf schütteln. Hier mal eine kleine Auswahl:
– Doch selbstverständlich haben wir eine Nummer am Haus, die ist nur zugerankt. (Haben die noch nie etwas von einer Gartenschere gehört?)
– Unsere Hausnummer ist neben der Eingangstür, wie sie sehen. (Ja super, aber die befindet sich seitlich am Haus, von der Straße aus ist sie also nicht sichtbar.)
– Wenn die Beleuchtung brennt, sehen sie auch unsere Hausnummer, aber wir sind sehr energiebewusst und lassen die Lampen lieber aus! (Sorry Leute, aber ich brauche keinen Pfadfinder-Crash-Kurs.)
– Eine Hausnummer ist längst nicht so wichtig wie ein Warnhinweis „Hier wache ich!“ Aber keine Sorge, wir haben gar keinen Hund. Das Schild ist nur als Einbrecher-Abschreckung gedacht und wir beißen nicht ha ha ha… (Ach, da bin ich ja beruhigt.)
– Wozu brauchen wir eine Hausnummer. Wir wissen doch, wo wir wohnen und der Briefträger auch. Und bis jetzt haben uns noch alle gefunden, die zu uns wollten. (Sorry Leute, aber ne Schnitzel-Jagd im Dunkeln musste ich jetzt nicht noch haben!)

Aber ich schweife ab. Wir waren bei der Heimfahrt vom Kaffeekränzchen. Die Freundin sagte schließlich stopp und ich bog ab in einen mit Steinen gesäumten Naturweg, der mir allerdings nicht bekannt vorkam. Aber was tut frau nicht alles, um einer Auseinandersetzung mit älteren Damen aus dem Weg zu gehen. Als ich mit ihr ausstieg, sah ich, dass es sich tatsächlich nicht um ihr Haus handelte und ich wollte sie schon wieder einsteigen lassen. Aber sie bestand darauf, die restlichen Meter bis zu ihrem Haus auf dem Fußweg weiter zu gehen. Es wäre nicht mehr weit, sagte sie noch, und schon war sie weg. Nennt man das Altersstarrsinn?

Also fuhr ich den schmalen Weg bei Regen im Dunkeln wieder zurück. Das war aber gar nicht so einfach, weil ein Bewohner des Hauses von hinten versuchte, sich an meinem Fahrzeug vorbei in seine Einfahrt zu quetschen. Als er endlich nicht mehr von hinten blendete, weil er es geschafft hatte, musste ich zweimal aussteigen, um mich zu vergewissern, dass ich beim Wenden nicht aus Versehen gegen einen der Begrenzungssteine fuhr. Ja, ich habe kein modernes mit Pieplauten ausgestattetes Auto. Und wenn es draußen dunkel ist, gehe ich lieber auf Nummer sicher. Allerdings ist das etwas nervig, wenn die Prozedur ununterbrochen von löchernden Fragen und Bekundungen untermalt wird. Und so hörte ich von der Rücksitzbank in Dauerschleife:
„Hatte ich überhaupt ein Geschenk? Habe ich mich eigentlich bedankt? Habe ich mich denn auch verabschiedet? Ich will nirgendwo mehr hin! Das nächste Mal sage ich einfach, dass ich keine Zeit habe!“

Meine Mutter hatte sich beim Kaffeekränzchen unwohl gefühlt, weil ihr doch irgendwie bewusst geworden war, dass sie bei der Unterhaltung nicht mehr mitkam.

Als wir zwei zu Hause angekommen waren, konnte meine Mutter mal wieder nicht abwarten und rutschte, bei dem Versuch alleine auszusteigen, von der Rückbank in den Fußraum. Und da saß sie nun fest und kam nicht mehr vor
und nicht mehr zurück. Ich versuchte von beiden Seiten sie herauszubekommen, aber es half kein Ziehen und kein Schieben. Der Vordersitz ließ sich auch nicht weiter nach vorne schieben.

Gerade als ich in Erwägung zog, die Feuerwehr anzurufen, kam ein Mieter meiner Mutter aus dem Haus. Mit vereinten Kräften und zweimaligem Positionswechsel gelang es uns beiden schließlich, meine Mutter vorsichtig aus dem Auto zu holen, ohne ihr die Knochen zu brechen. Einen Kartoffelsack hätte ich vermutlich leichter von der Rückbank ins Freie gehievt.

In ihrer Wohnung angekommen, ging meine Mutter ins Schlafzimmer und sagte mir, dass sie an ihrem Bett kein Licht mehr hätte; die Glühbirne wäre kaputt gewesen. Eine neue Glühbirne hatte ich schließlich gefunden. Glauben Sie mir, Schubladen gibt es genug, die solche Schätze vor der Außenwelt abschirmen. Nun musste ich also nur noch die Klemmleuchte selbst suchen. Die hatte meine Mutter nämlich schon entfernt. Irgendwann fand ich sie schließlich in einer Ecke des Schlafzimmers zwischen mehreren Taschen.  „Wer suchet, der findet“, heißt es ja schon in der Bibel.

Ich bin ein ordentlicher Mensch, vielleicht, weil ich zu faul zum Suchen bin, vielleicht ist es aber auch nur ein inneres Bedürfnis, einen echten Überblick zu haben und jederzeit zu wissen, wo ich was finden kann. Ich hasse es, wenn etwas nicht an seinem Platz ist. Aber wenn ich bei meiner Mutter bin, muss ich immer etwas suchen, weil sie es alleine gar nicht mehr findet. Ja, man könnte sogar sagen:

Das ganze Leben ist eine Schnitzeljagd! Man muss allerdings nicht jedem Schnipsel hinterher jagen. Manchmal ist es ganz gut, wenn Sachen von der Bildfläche verschwinden. Ich denke da z.B. an den Führerschein meiner Mutter. Aber das ist eine andere Geschichte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*