Weihnachten in Schwarz Weiß

Am ersten Weihnachtstag wollte ich, wie geplant, meine Mutter zu mir holen. Damit sie sich schon mal bereit machen konnte, rief ich vorher an. Aber sie sagte nur, dass es ihr sehr schlecht ginge und sie lieber zu Hause bleiben würde. Sie hätte Bauchweh. Zu ihren ständigen Rückenschmerzen waren nun also noch Bauchschmerzen und Durchfall hinzugekommen.

Das liegt vermutlich an ihrem unkontrollierten und unregelmäßigen Essen, besonders in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, in der IHR Feinkostladen kein Essen liefert. Sie stopft alles Mögliche in sich hinein und vergisst zu allem Überfluss auch noch, dass sie schon gegessen hat. Außerdem wird die Kühlkette der Lebensmittel im Grunde ständig unterbrochen. Oft vergisst sie nämlich die Lebensmittel in den Kühlschrank zurückzustellen und isst dann sogar halb verdorbene Sachen.

Also schnappte ich mir unseren Angurate Tee und fuhr los. Nachdem ich ihr einen Becher Tee hingestellt hatte, sah ich, in welcher beschissenen Situation sie sich befand und machte schnell ein wenig sauber. Ich wollte auf keinen Fall, dass meine Mutter an diesem Tag alleine zu Hause sitzt.  Also lautete die Devise: Abwarten und Tee trinken. Nachdem wir das getan hatten, ging es meiner Mutter tatsächlich ein wenig besser und sie war bereit mitzukommen. Jetzt musste ich sie nur noch ein wenig herrichten. Was hätte ich dafür gegeben, wenigstens einmal in meinem Leben die bezaubernde Jeannie sein zu dürfen. Aber ich musste improvisieren, wie immer.

Zunächst suchte ich die gute, neue, weite, schwarze Feincordhose meiner Mutter. Aber ich fand sie einfach nicht. Schließlich sah ich, dass die gesuchte Hose bereits am „Mann“ bzw. an der Frau war. Tatsächlich, meine Mutter trug diese Hose, was ich aber nicht erkennen konnte, weil das gute Stück inzwischen alles andere als gut, neu, weit und schwarz aussah.

Eines ist mir sofort klar geworden: Meine Mutter hat die von ihr zunächst abgelehnte Hose inzwischen voll ins Herz geschlossen. Sie trägt keine andere mehr, allein schon deshalb, weil ihr fast alle anderen Hosen zu klein geworden sind. Ich werde ihr bald eine neue Hose kaufen müssen.

Als wir das geklärt hatten, wollte sie den bunten Jacquard Pullover mit Norweger-Muster partout anbehalten. Okay, dachte ich, dann nehme ich die weiße Bluse, die schwarze Glitzerweste und die dicke schwarze mehrreihige 50er Jahre Schmuckstein-Halskette eben mit und versuche es bei uns zu Hause noch mal mit dem Umziehen. Vielleicht kann ich sie dann noch ein bisschen aufpeppen. Früher hatte sie sich an Weihnachten immer gerne in Schwarz Weiß gekleidet.

Als wir schließlich bei uns ankamen, war es schon sehr spät und ich hatte sofort, trotz Vorbereitung und Hilfe meines Mannes, alle Hände voll zu tun, das Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Unsere Tochter und ihr Freund nahmen sich meiner Mutter an und beantworteten bereitwillig und unaufhörlich dieselben Fragen. Als Ablenkung zeigten sie ihr auch immer wieder alle Geschenke.

Als wir am Mittagstisch saßen, sagte meine Mutter aus dem Nichts heraus zu meinem Mann, dass er den dicken Schinken aber unmöglich mit ins Bett nehmen könne. Das wäre viel zu anstrengend, den die ganze Zeit hochzuhalten. Welchen Schinken?, dachten wir. Es gab Rinderbraten und im Bett wird sowieso nicht gegessen. Wir sahen uns irritiert an, bis wir begriffen hatten, wovon sie eigentlich sprach. Sie meinte das dicke Buch, dass mein Mann von unserer Tochter bekommen hatte. Ja, demente Menschen bekommen Gedankensprünge hin, da kommt kein Normalsterblicher hinterher.

Nach dem Mittagessen ging es meiner Mutter viel besser und ich schaffte es, ihr die weiße Bluse anzuziehen. Als sie in den Spiegel sah, fiel ihr auf, wie sauber und weiß die Bluse strahlte. Ich sagte ihr, dass ich das gute Stück neulich bei mir eingeweicht und gewaschen hätte. Dann sah sie wieder in den Spiegel und meinte: „Aber mein Haar brauche ich nicht zu waschen, das ist weiß genug.“ Da kann ich nur sagen, wo sie recht hat, hat sie recht. Der muffige wild gewordene Handfeger auf ihrem Kopf ist weiß genug. Ihr wesentlich jüngerer Bruder brachte es einmal folgendermaßen auf den Punkt: „Wie siehst du denn aus, Margret, hast du dich von deinem Freundeskreis verabschiedet?“

Gut, dass man eine Familie hat, die einen liebt. Sie sagen zwar unbequeme Wahrheiten, aber man ist nicht so allein, was an Weihnachten besonders bitter wäre. So saßen wir also  alle in schwarz weiß gekleidet friedlich am Kaffeetisch. Ich war froh und erleichtert, dass wir ohne weitere Zwischenfälle  soweit gekommen waren. Alles war festlich geschmückt und erstrahlte im Glanz der Lichter. Wer denkt in einem solch kostbaren Moment schon an die Frisur.

­­Abends spät konnte ich endlich auf der Couch sitzen und durchatmen. Meine Mutter hatte ich inzwischen wieder nach Hause gebracht, umgezogen und vor den Fernseher gesetzt. In meinem Handy sah ich nun Weihnachtsgrüße und -fotos mit ganzen Familien in bunten Weihnachtspullovern mit Tannenbaum-Hintergrund. Und mir wurde schlagartig klar, dass meine Mutter mit ihrem Pullover voll trendy gewesen wäre. Ich fragte mich, warum ich ihr eigentlich die festliche schwarz-weiße Kleidung angezogen hatte. Manchmal sollte man den Dingen einfach ihren Lauf lassen.

Als ich meine Mutter am nächsten Tag anrief, sagte sie, es gäbe gerade einen schönen Film im Fernsehen. Es ist mit Fiffy. Ach, ein netter Hundefilm, dachte ich, und wollte sie nicht stören. Dann sah ich in die Programmzeitung und musste laut lachen. Zu Weihnachten gab es natürlich Sissi, was sonst. Ich hätte es wissen müssen. Jedes Jahr läuft im Grunde dasselbe Fernsehprogramm. Auch an Silvester. Da heißt es dann wieder: Dinner for one. Natürlich in Schwarz Weiß, ohne bunten Weihnachtspullover, eben ganz klassisch.

Ich frage mich nur, ob die Mitglieder des Frauenbundes für alkoholfreie Kultur dieses beliebte Bühnenstück überhaupt anschauen und darüber lachen dürfen. Ich werde es jedenfalls gemeinsam mit meinem Mann tun. In diesem Sinne: Prosit Neujahr!!!

Sicher kochen mit Strumpfhaltern

Als ich noch Single war und mein Vater noch lebte, machten meine Eltern und ich einmal zu Weihnachten einfach so zum Vergnügen ein Rollenspiel. Wir saßen alle am Esstisch und mein Vater war der Graf, mir wurde die Rolle der Gräfin zugedacht und meine Mutter sollte das Kind spielen; es hieß Esmeralda Katastropha. Unser Esmeraldchen war unverbesserlich und hatte nur zwei Dinge im Kopf: Gärten und Bücher. Man konnte nun meinen, dass wir den gepflegtesten „Schlossgarten“ hätten und Esmeraldchen besonders gebildet wäre, aber sie war im Garten nur an der Ernte interessiert und bei Büchern nur am Verschlingen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Früchte aß sie und die Geschichten vergaß sie.

Esmeralda, äähhh meine Mutter hat im richtigen Leben vier Kinder zur Welt gebracht. Zuerst zwei Jungen und dann zwei Mädchen. Ihre Jüngste, also meine Schwester, hat sich immer verantwortlich gefühlt und um vieles gekümmert. Man könnte sagen, Initiative ist ihr zweiter Vorname. Sie hat immer wieder den sehr weiten Weg auf sich genommen und alles stehen und liegen lassen, um unsere Mutter zu besuchen oder sie zu sich zu holen und ihr Heilpraktiker-Behandlungen und Massagen zu kommen zu lassen. Sie machte es wie selbstverständlich, obwohl unsere Mutter jedes Mal stundenlang und tagelang zu ihrem Glück überredet werden muss.

Mein zweiter Vorname ist Anpassung. Ich fühlte mich schon immer für die Harmonie zuständig. Dafür habe ich versucht alles passend zu machen und selber oft zurückgesteckt. Das war natürlich meiner Persönlichkeitsentwicklung nicht zuträglich. Ab und zu beschwert sie sich bitter. Und es ist wahnsinnig kräftezehrend, immer als Harmonie-Beauftragte zu agieren: im Elternhaus, im Zuhause mit der Schwiegermutter damals, in der Arbeit, in Gruppen… Zum Glück kann ich mich beim Schreiben austoben und muss mich da nicht zurückhalten – ein gutes Gefühl.

Und dann ist da noch mein dritter Vorname, die Ordnung, die mein Leben mitbestimmt. Ich muss immer alles im Überblick behalten, was mir zu Hause auch wunderbar gelingt. Auch bei der Vermögenssorge meiner Mutter läuft alles wie am Schnürchen und ich weiß, was zu tun ist. Aber in Bezug auf mein Elternhaus sind Hopfen und Malz verloren. Das hatte mich schon früher gestört. Aber damals war meine Mutter noch nicht dement und wusste mit ihrem hausgemachten Chaos sehr gut umzugehen. Inzwischen hat auch sie den Überblick völlig verloren. Da passiert es schon mal, dass Kleidungsstücke für Tage „verschwinden“ und dann wie aus dem Nichts wieder auftauchen.

Meine Schwester hat dann immer folgenden Spruch auf den Lippen: „In einem geordneten Haushalt geht nichts verloren“, sagte die Mutter und fischte den Strumpf aus der Tomatensuppe.

Gut, Letzteres ist bei uns natürlich nie vorgekommen. Und jetzt kann es nicht passieren, denn unsere Mutter kocht nicht mehr selbst. Schade eigentlich, denn ihre Tomatensuppe war immer sehr schmackhaft – auch ohne solche „Geschmacksverstärker“.

Weihnachtsgeld für Vermieter! Neues Geschäftsmodell?

Meine Mutter hat ein neues Geschäftsmodell, um an Bargeld zu kommen. Und außerdem hat sie Sonderwünsche. Sie will das Geld in „kleinen Scheinen“.

Ihre neueste Strategie ist folgende: Sie wolle ihren Mietern Weihnachtsgeld geben. Das wolle sie ihnen in Umschlägen zusammen mit Weihnachtskarten auf die Treppenhaustreppe legen.

Ich sagte ihr, dass sie schon lange keine Weihnachtskarten mehr schreiben würde und dass, solange ich denken kann, kein Mieter unseres Hauses je Weihnachtsgeld bekommen hätte. Abgesehen davon habe ich auch noch nie gehört, dass irgendein Mieter auf der Welt Weihnachtsgeld vom Vermieter erhält.

Bei der momentanen Wohnungsknappheit würde es mich allerdings nicht wundern, wenn die VERmieter in Zukunft mit dieser Art von Zuwendung bedacht werden. Nur um an eine Wohnung zu kommen, würden viele Leute heute sicher einen Mietvertrag unterschreiben mit vereinbarter jährlicher Weihnachtsgeldzahlung an ihren Vermieter. Den Floh habe ich meiner Mutter aber nicht ins Ohr gesetzt. Am Ende verlangt sie tatsächlich noch Geld von den drei Männern im ersten Stock.

Natürlich fragte ich mich, wofür meine Mutter plötzlich wieder Bargeld haben wollte. Sie geht kaum noch aus dem Haus; und wenn sie doch mal etwas einkaufen möchte, geht sie ausnahmslos zu EDEKA, wo sie alles mit ihrer Kundenkarte bezahlen kann. Alles läuft also bargeldlos wie am Schnürchen. Ich hätte noch verstanden, wenn sie das Geld für das Pflegedienst-Team und ihre persönlichen Hilfen gewollt hätte. Aber davon war nicht die Rede. Um diese Art „Weihnachts-Schmerzensgeld“ durfte ich mich selber kümmern. Was ich natürlich auch getan habe.

Nein, das Bargeld war mal wieder für ihren einen Enkel gedacht, der wie in alten Zeiten zu ihr gekommen war, weil er „dringend“ Geld brauchte. Vermutlich tischte er ihr wieder irgendwelche Lügengeschichten auf, um ihr Mitleid zu wecken. Denn wenn er ankündigen würde, dass er das Geld für Drogen bräuchte, würde meine Mutter ihm nichts geben. Sie möchte ja, dass aus ihm „etwas wird“, und dafür braucht man zum Beispiel neue Schuhe – wenn es sein muss auch täglich. Zum Glück kann sie nicht mehr ausgenommen werden wie eine Weihnachtsgans.

Da muss der Enkel eben mit bargeldlosen Weihnachtsgrüßen in ein hoffentlich abhängigkeitsfreies 2019 starten. Das Blatt hat sich gewendet, und das ohne Weihnachtskarte.

Der Ohrwurm starb nicht im frühen Morgenrot – es war Nachmittag

An ihrem Geburtstag besuchte ich meine Mutter. Vormittags traf ich bei ihr ein. Mitgebracht hatte ich einen kleinen und einen großen Weihnachtsstern, zwei neue Wollpullover, einen selbst gebackenen Kuchen, Kerzen, Orangensaft und Sekt, von denen ich wusste, dass ich sie höchstwahrscheinlich wieder mitnehmen würde. Aber man weiß ja nie wer kommt. Ich hatte alles im Korb, wie bei dem Märchen »Rotkäppchen und der Wolf«. In meinem Fall hätte allerdings eher der Titel »Schwarzkäppchen und der Frust« gepasst.

Den Abend vorher hatte meine Mutter mich angerufen und gesagt, dass sie Angst davor hätte, Besuch von ihren Freundinnen zu bekommen. Sie wäre allein bei dem Gedanken daran schon krank und würde schlecht Luft bekommen. Ich konnte sie beruhigen und ihr versichern, dass die vier Damen nicht kommen würden. Aber auch ihre Befürchtung, dass eben diese Freundinnen sie in Zukunft nicht mehr einladen würden, wenn sie nicht einlud, flammte immer wieder bei ihr auf. Dabei war es genau das, was sie sich wünschte. Sie will einfach keinen Besuch mehr von „Fremden“ bekommen und zu denen will sie auch nicht mehr gehen. Telefonisch mit ihnen in Verbindung bleiben ist aber okay für sie.

Als ICH dann kam, freute Sie sich sehr und ließ mich alles auspacken, was ich dabei hatte. Einer der beiden neuen Pullover gefiel ihr auf Anhieb und ich half ihr sofort bei der Anprobe. Sie fühlte sich pudelwohl darin und ich schnitt das Preisschild ab, damit es nicht irgendwo hängen bleiben konnte. Als sie sich etwas später im Spiegel ansah, war die Begeisterung schlagartig vorbei.

Okay, dann probieren wir mal den anderen Pullover an, der ihr plötzlich besser gefällt, dachte ich. Gesagt getan. Sie ließ ihre Hand darüber gleiten. Ja, der ist weicher, weiter, dicker und roter. Rot ist ihre absolute Lieblingsfarbe. By the way: Als Kind trug ich nur rote Pullover. Meine Geschwister und ich hatten ganz früher an der Ostsee sogar rote Badehosen an. So rot, wie die bei Baywatch. Allerdings waren unsere von unserer Mutter selber gestrickt, und wir hätten uns im Notfall selbst retten müssen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Diesen zweiten Pullover wollte meine Mutter gleich anbehalten und ich schnitt auch dieses pikende Preisschild heraus. Als sie sich dann später im Badezimmer-Spiegel anschaute, sagte sie barsch: „Den Pullover kannst du gleich wieder hinbringen.“

So zog ich ihr wieder den ersten Pullover an und legte das rote Exemplar heimlich in ihre große Herrenkommode. Dann setzten wir uns an den Tisch und betrachteten die Weihnachtsdekoration. Das riesige Transparent mit Maria, die durch den Dornwald geht, leuchtete auf dem Klavier. Die Kerzen brannten und die Weihnachts-Pyramide drehte sich unaufhörlich.

Letztes Jahr hatten meine Schwester und ich die Pyramide erst nach sehr langer und verzweifelter Suche im Kleiderschrank hinter einem Stapel Nachthemden gefunden. In diesem Jahr fand ich sie in der Herrenkommode quasi uneinsehbar hinter Taschen und Bandagen versteckt – Bandagen, die nicht ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen konnten, weil sie kurz nach dem Erhalt abgeschoben worden waren. Ich schätze, dass neunzig Prozent der verordneten Bandagen ziemlich schnell in die Kleiderschränke ihrer Besitzer wandern, wo sie dann ihre letzte Ruhe finden. Über eine kurze Probephase kommen sie meist nicht hinaus – ich meine die Bandagen, nicht ihre Besitzer.

Die Bandagen meiner Mutter dürften neidisch auf die Weihnachts-Pyramide sein, denn die darf immerhin jedes Jahr vier Wochen laufen, und das ohne Knie, und ohne, dass sie perfekt sitzen muss; sie passt in die Weihnachtszeit und ist überaus beliebt, im Gegensatz zur Bandage, die einen unter Umständen genauso umbringen kann, wie ein Hüfthalter. Aber ich schweife ab.

Meine Mutter und ich saßen also bei Kerzenschein und aßen zu Mittag. Im Laufe des Tages kamen immer wieder Anrufe. Auch von einer alte Chor-Freundin, die viel jünger ist als meine Mutter. Sie rief an, um zu gratulieren. Meine Mutter machte ihr Vorwürfe, dass sie so lange nichts von sich hören lassen hätte. Die Freundin entschuldigte sich mit den Worten, dass ihr Freund gestorben sei. Meine Mutter bedauerte das, hatte es aber augenblicklich wieder vergessen und fragte dann sofort wieder nach dem Befinden der Freundin. Diese sehr liebe und verständnisvolle Frau weiß zum Glück, dass meine Mutter dement ist, und versprach nachmittags zum Kaffee vorbeizukommen. Der Besuch einer einzelnen zusätzlichen Person tut gut und ist ganz zwanglos. Wir freuten uns darauf.

Nachdem meine Mutter aufgelegte hatte, fing sie an zu singen – oder sollte ich eher brummen sagen? Und dazu trommelte sie im Takt mit den Fingern auf den Tisch, wie sie es oft macht. Die Melodie kam mir allmählich bekannt vor. Ab und zu brachte meine Mutter auch den einen oder anderen Textbrocken hervor. „Mein Schatz der Freund ist tot …“, hörte ich. Und plötzlich wusste ich, welches Lied sie so begeistert und inbrünstig vortrug und mir fielen sofort die richtigen Zeilen ein: „Mein Freund der Baum ist tot, er starb im frühen Morgenrot.“ Es war das Lied, mit dem die Sängerin Alexandra 1968 einen Hit landete. Die hatte sich in diesem Moment mit Sicherheit im Grabe herumgedreht. Der Vortrag meiner Mutter war irrwitzig und irgendwie total skurril.

Als kurze Zeit später meine Schwester anrief, trommelte meine Mutter immer noch singend auf dem Tisch herum und ich bekam einen Lachkrampf bei dem Versuch, meiner Schwester den Grund dafür zu erklären. Das Trommeln und das Lachen schaukelten sich langsam hoch. Schließlich lachten wir alle drei zusammen, laut und ungehemmt. Es war ein herrlich befreiendes Gefühl.

Immer wieder setzte ich atemlos zum Versuch an, meiner Schwester zu erzählen, was der im Grunde traurige Anlass für unser Gelächter war. Aber mit meiner singenden, trommelnden Mutter vor mir konnte ich vor Lachen nicht weitersprechen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich zu Ende erzählen konnte.

Für einen kurzen Moment hatte ich meine nicht so lustige Betreuungssituation vergessen. Aber dann leuchtete schon wieder eine innere Warnlampe auf. Inständig hoffte ich, dass sich der „Ohrwurm“ meiner Mutter verdünnisieren würde, bevor die nette Freundin zum Kaffeetrinken eintraf. Denn diese Art der Anteilnahme kommt bei echter Trauer nun mal nicht wirklich gut an, besonders, wenn sie so inbrünstig vorgetragen wird. Feingefühl gehörte noch nie zu den Stärken meiner Mutter. Und jetzt hat es sich endgültig von ihr verabschiedet. Aber wer sie kennt, weiß, dass sie im Grunde ein gutmütiger Mensch ist, und das ist es doch, was die Menschlichkeit ausmacht.

Funkwellenfreies Handy im Strumpf

Meine Mutter sagt immer, was sie denkt, auch wenn sie gar nicht gefragt wird. Würden das alle Menschen tun, wäre ein friedliches Zusammenleben auf der Welt wohl kaum möglich. Bei meiner Mutter geht diese Art der Ehrlichkeit aber auch noch mit Wechselhaftigkeit einher, was größtenteils ihrer Demenz geschuldet ist. Wenn sie ihre Kleidung so oft wechseln würde, wie ihre Meinungen und Absichten, wäre sie die gepflegteste Erscheinung auf Erden.

Sie sagt, sie wäre eben so, wie sie ist. Der liebe Gott würde nur Einzelstücke anfertigen. Bei ihr kommt nun also das kleine eigensinnige Einzelstück ihrer Kindheit wieder voll zum Vorschein. Auch das Duschen und Haare waschen umschifft sie so gut sie kann. Neuerdings will sie ausschließlich ihren rotbunten Jacquard-Woll-Pullover in Kombination mit ihrer braun-karierten Hose tragen, sogar zur Frauenbund-Adventsfeier. Aber das konnte ich gerade noch verhindern.

Obwohl ich zugeben muss, wenn ich die neuste Mode betrachte, ist so etwas Schräges total angesagt. Kaum zu glauben, aber karierte und bunte Muster sind voll im Trend, sogar in wilden Kombinationen. Meine Mutter hat keine Ahnung von Mode, aber sie weiß, wie praktisch Buntes ist; man sieht nämlich nicht gleich jeden Fleck. Trotzdem würde ich ihren Wollpullover gerne mitnehmen und nach Pflegeanleitung waschen. Zum einen, damit er nicht so winzig wird wie sein Vorgänger (es lebe die Kochwäsche) und zum anderen, weil der Pullover vor ihrer Brust, wo sich alles weit nach vorne wölbt, inzwischen merklich dunkler geworden ist. Außerdem hat er am Ellenbogen ein sich ausbreitendes Loch, das dringend gestopft werden muss.

Man könnte jetzt dagegen halten, dass teure Designer-Jeans ja auch Löcher hätten und Designer-Schuhe an den Spitzen absichtlich schmuddelig dunkler gemacht würden. Das ist zutreffend und man nennt diesen Trend Used-Look. Ich glaube jedoch nicht, dass irgendjemand den Pullover meiner Mutter als Designer-Stück durchgehen ließe – schon gar nicht ihre Senioren-Freundinnen. Die würden sofort sehen, was wirklich los ist. Meiner Mutter scheint das egal zu sein, mir aber nicht. Denn letztlich fällt doch alles auf mich, als Betreuerin, zurück. Deshalb habe ich ihr heimlich zwei neue rot-bunte Jacquard-Pullover bestellt, die ich ihr zum Geburtstag „unterjubeln“ werde. Offiziell geht diesbezüglich gar nichts, das ist ja das Problem. Andere Mütter würden sich freuen, wenn ihre Töchter ihnen schicke, bequeme Sachen kaufen würden.

Sie sehen schon, meine Mutter ist ein Einzelstück, das einen fertigmachen kann. Einerseits will sie so sein, wie sie eben ist, andererseits will sie ihre vornehmen Freundinnen zu ihrem bevorstehenden Geburtstag einladen. Eigentlich hat sie Angst davor, weil ihr bewusst geworden ist, dass sie nicht mehr an der Unterhaltung teilnehmen kann und, dass ihr das alles zu viel wird.

Im letzten Jahr sollte ich mich noch um alles kümmern. Freie Hand ließ sie mir dabei allerdings nicht gerade. Es hätte auch nicht viel genützt, denn die freie Hand kann nun mal nicht zaubern und schon gar nicht aus dem bockigen Kind eine gepflegte Gastgeberin machen. Deshalb wird auch in diesem Jahr nicht gefeiert und sie ist erleichtert.

Aber für die passive Teilnahme an einer Adventsfeier war meine Mutter bereit. Mit Engelszungen redete ich auf sie ein. Schließlich gelang es mir, sie nicht nur zur weißen Bluse, Strickjacke und schwarzer Hose zu überreden, sondern sie auch in selbige hineinzuquetschen. Dann hängte sie sich ihr Handy um, dass sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Das steckt in einer Art Strumpf mit einer langen Kordel dran.

Seitdem sie ein Handy besitzt, ist sie daran gewöhnt es sich umzuhängen, sobald sie das Haus verlässt. So fühlt sie sich sicherer. Die Tatsache, dass es nicht funktioniert, weil weder Akku noch Guthaben aufgeladen sind, ist ihr nicht bewusst und das ist auch nicht notwendig. Denn was würde ihr ein einsatzbereites Handy nützen, das sie definitiv nicht mehr bedienen kann?

Sie ist grundsätzlich davon überzeugt, dass sie noch alles kann, aber nicht ausschließlich. Es wechselt. Und ich versuche weitestgehend meiner Mutter die Illusionen zu erhalten und sie so leben zu lassen, wie sie es gewohnt ist. Das entspricht zwar nicht den Standards, aber auf diese Weise lebt sie so, wie sie es möchte in ihrem kleinen Demenz-Mikrokosmos mit Löchern im Pullover, die sie sich allerdings nicht vom Einsatz in unserer Ellenbogengesellschaft geholt hat – nein, die sind einfach nur vom Zahn der Zeit hineingearbeitet worden.