Die möblierten Zimmer, die meine Eltern über Jahrzehnte vermieteten, sorgten für die ungewöhnlichsten Begegnungen. Ich kann mich noch an eine junge Dame erinnern, die Anfang der 1960er Jahre bei uns wohnte, und zwar im Souterrain-Zimmer. Sie hatte gefärbtes, zu einem riesigen Turm auftoupiertes Haar, enorme schwarze Lidstriche und einen kleinen Schönheitsfleck.
Solche außergewöhnlichen Geschöpfe, wie sie, hatte ich bis dahin nur im Fernsehen gesehen. Ich sah ihr einmal fasziniert zu, als sie sich anmalte und ihre Fingernägel lackierte. Leider konnte ich später mit den Wasserfarben meines Tuschkastens nicht so hinreißende Resultate bei mir selbst erzielen. Und ich duftete auch nicht so gut wie sie, nachdem ich mich mit dem Parfum meiner Oma von oben bis unten beträufelt hatte. Danach konnte ich mich selbst nicht mehr riechen, von den anderen Familienmitgliedern ganz zu schweigen. Niemand wollte mit mir im gleichen Raum sein. Ich fühlte mich scheußlich, hatte dabei aber eines fürs Leben gelernt und nie wieder vergessen: Weniger ist mehr.
Die hübsche Mieterin arbeitete in einer Parfümerie und machte in Sachen Pflege und Schönheit alles richtig. Außerdem war sie immer sehr modern gekleidet und trug Hackenschuhe. Das war wohl auch der Grund, weshalb meine Eltern weniger begeistert von dem „jungen Mädchen“ waren, denn ihre Pfennigabsätze hinterließen unübersehbar dauerhafte Dellen im blank-gebohnerten Fußbodenbelag unseres Treppenhauses. Man könnte von einer prägenden Zeit für den Boden sprechen. Für mich aber war der Fußboden völlig uninteressant, im Gegensatz zu dem Fräulein, das ich wunderschön fand. Leider gefiel sie auch dem verheirateten Besitzer einer italienischen Eisdiele, von dem sie bald schwanger wurde.
Es war nicht sein einziges uneheliches Kind in der Gegend. Und alle bekamen jedes Jahr eine Eisbombe von ihm zum Geburtstag geschenkt, sozusagen on top auf die Alimente. Ja sogar eine Cousine des „unehrlichen“ Kindes – so hatte ich die Bezeichnung aufgeschnappt und deshalb auch nicht verstanden – bekam eine Eisbombe zu ihrem Geburtstag. Ich durfte damals mit am Geburtstagstisch sitzen, als diese überwältigende Köstlichkeit geliefert wurde.
Ich weiß nicht, was die Verwandten dabei empfanden. Ich fand es grandios und wäre auch gern ein ”unehrliches“ Kind gewesen, aber nur an meinem Geburtstag!
Ich weiß nicht, wie viele Jahre auch ich glaubte, dass es sich um unehrliche Kinder handelt. Normalerweise hatten die es richtig schwer in der Gesellschaft. Aber in diesem Fall wurde die Kinderpsyche wenigstens einmal pro Jahr ordentlich aufpoliert.