Am nächsten Sonntag ist Totensonntag. Deshalb fuhr ich mit meiner Mutter wie üblich zum Friedhof, um das Grab zu diesem Anlass frisch herzurichten. Ich überlegte, ob ich meine Tasche im Auto lassen sollte. Weil Autos immer häufiger an Friedhöfen aufgebrochen werden, nahm ich sie lieber mit.
In nächster Nähe unseres Familiengrabes stehen mehrere Rieseneichen. Entsprechend viel Laub fällt um diese Jahreszeit unaufhörlich herunter. Als wir ankamen, konnten wir unser Grab zunächst kaum sehen. Es war fast völlig mit Eichenblättern bedeckt. Die meisten anderen Gräber, die sich in der Nähe befinden, werden von Friedhofsgärtnern gepflegt, was man an einer Markierung erkennt, die vorne auf den Gräbern steckt. Ein Mann war auch gerade damit beschäftigt, das Laub von den Gräbern zu blasen, für die er zuständig ist. Aber ich denke, wenn beim Blasen die Eicheln ignoriert werden, kann wohl kaum ein befriedigendes Ergebnis dabei herauskommen. Außerdem ist das Ganze mit sehr viel Krach und Abgasen verbunden. Seit der Erfindung des Laubbläsers ist die viel gepriesene Friedhofsruhe dahin. Aber ich schweife ab.
Wie Sie sich schon denken können, wurden die Blätter nicht weggebracht, sondern nur umverteilt. Dreimal dürfen Sie raten, wo sie landeten. Aber Schwamm, ääh Harke drüber.
Ich stellte meine Utensilien und meine Tasche mit etwas Abstand zum Grab ab, damit ich auch drum herum alles frei harken konnte. Während ich beschäftigt war, vermied der Gärtner freundlicherweise, weiteres Laub in unsere Richtung zu blasen. So kam ich gut voran und konnte auch die Eicheln aus den Bodendeckern herausholen, von denen es in diesem Jahr besonders viele gibt.
Während meine Mutter auf dem Rollator saß und mich „unterhielt“, befreite ich das Grab von allem, was da nicht hingehörte. Körbeweise brachte ich die zusammengeharkten Blätter, einschließlich Eicheln, zum sehr nahe gelegenen Abfallkorb und erntete ein paar mitleidige Blicke vom Gärtner. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten, sagte ich mir. Nach getaner Arbeit war unser Grab nämlich das einzige im Umkreis, das nicht voller Eicheln war, die später wie Unkraut keimen. Im Frühjahr muss ich nicht mühsam die Mini-Eichen herausreißen. Ich denke, mit dem Laubblasen ist es so, wie es im Leben oft ist: Zuerst wird viel Wirbel gemacht und am Ende kommt wenig dabei heraus.
Außer dem Laubbläser hielten sich noch zwei andere Gärtner in unserer Nähe auf, die mit einem anderen Grab beschäftigt waren. Die junge Frau pflanzte und steckte Tannengrün, während der ältere Kollege zusah und Ratschläge gab. Das nennt man Arbeitsteilung.
Dann erblickte ich noch einen anderen Mann, der langsam immer näher kam. Er sah nicht nach einem Gärtner aus, aber auch nicht wie ein Friedhofsbesucher, der auf dem Weg zu dem Grab eines Angehörigen ist. Als ich zu ihm aufsah, guckte er schnell weg. Dann stellte er sich an ein sehr nahe gelegenes Grab und steckte sich eine Zigarette an. Ich musste unwillkürlich immer wieder in seine Richtung schauen. Was will der da?, dachte ich. Der Grabbläser war inzwischen fertig mit seiner Verteilungsarbeit und entfernte sich.
Mein Portemonnaie hatte ich in meiner inneren Jackentasche, aber mein Handy und mein ”Betreuungs-Täschchen“ mit einigen wichtigen Unterlagen waren in meiner Tasche, die immer noch dort stand, wo ich sie abgestellt hatte. Intuitiv nahm ich sie an mich und packte erst dann langsam alle Utensilien zusammen, die ich für die Grabpflege mitgebracht hatte.
Die Sonne schien und ich genoss die Stille ohne den Lärm, soweit es eben möglich ist mit einer Mutter, die ständig reden muss. Dann atmete ich tief durch. „Endlich ist die Luft rein“, freute ich mich. Als ich wieder zu dem geheimnisvollen Mann hinüber sah, war er verschwunden. Merkwürdig! Er hatte wohl auch darauf gewartet, dass „die Luft rein ist“, allerdings in einem anderen Sinne. Und das war sie definitiv nicht, den das ungleiche Gärtnerpaar beschäftigte sich immer noch in unserer Nähe.
Schließlich gingen wir langsam den Weg zurück. Kurz vor dem Ausgang ging der unheimliche Mann direkt auf uns zu. Meine Tasche habe ich von meiner Tochter abgestaubt. Die besteht aus wasserdichter Lkw-Plane mit einem breiten verstellbaren Schultertrageriemen. Den hatte ich mir quer übergehängt. Das nennt man Crossbag, und genau so soll sie auch hängen bleiben, dachte ich intuitiv. Meine eine Hand umklammerte fest die Harke. In der anderen Hand hielt ich den Korb mit meinem Unkraut-Stecher. Ich merkte, wie auch meine Mutter spürte, dass etwas nicht stimmte, denn sie hörte plötzlich auf zu reden. Die Situation war unheimlich, aber ich wollte nicht als Opfer da stehen und richtete mich etwas auf, um Stärke zu signalisieren.
„Nah warte! Ich zeig dir, was ‘ne Harke ist“, sagte mein Blick, als der Mann mich mit seinem unheimlichen Blick ansah, „Wir sind vorbereitet. Ein Taschenfreak, wie ich, lässt sich seine Tasche nicht so einfach wegnehmen. Und wenn es sein muss, haut dir auch noch meine Mutter die Pflanzschaufel links und rechts um die Ohren, bis Dir Hören und Sehen vergeht.“ Was soll ich sagen? Bingo! Es hatte gewirkt. Der fremde Mann hatte meine telepathische Nachricht offenbar erhalten, denn er änderte seinen Blick und ging in letzter Sekunde an uns vorbei.
Erleichtert fuhren wir nach Hause und aßen zu Mittag. Bevor nachmittags Bares für Rares anfing – Sie wissen schon, diese Trödelshow mit Horst Lichter – machte ich meiner Mutter noch einen Kaffee, putzte ihre Brille und gab ihr Augentropfen. So konnte sie genussvoll ihre Lieblingssendung im Fernsehen anschauen und ich konnte mich getrost auf den Heimweg machen.
Dieses Mal wollte ich ihre weiße Bluse mitnehmen, um sie mit meiner weißen Feinwäsche mitzuwaschen und wieder tragbar zu machen. Aber meine Mutter fand das unnötig und meinte: „Die ist doch gar nicht so schmutzig. Irgendwann bin ich unter der Erde, und da ist es noch viel schmutziger.“ Daraufhin lachten wir beide laut. Auch dieses Thema kann man also ruhig mit Humor sehen.
Eine wahrlich gruselige Atmosphere, die da auf den Friedhöfen herrscht. Aber zum Glück kann man durch seine Mimik einiges entschärfen, zumindest in diesem Fall. So wären wohl die Worte dazu gewesen: „wenn Blicke töten könnten…“