Waschen zum Mondscheintarif

Meine Mutter hat einen zweiten Urenkel bekommen. Als ich sie besuchte, brachte ich eine süße Glückwunschkarte mit. Die gefiel ihr auf Anhieb auch so gut, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber sie könne nicht mehr schreiben, sagte sie. Das solle ich für sie erledigen, weil meine Schrift besser wäre als ihre. Ich sagte ihr, dass das überhaupt nicht darauf ankommen würde. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb erst einmal alles auf, was meiner Mutter als Text so einfiel. Ich kam mir vor wie eine Sekretärin. Allerdings benahm sich meine Mutter nicht wie eine Chefin mit Durchblick.

Immer wieder sagte sie, dass man dem Kleinen doch nicht zu seiner eigenen Geburt gratulieren könne, was wir ja auch nicht tun wollten. Die Eltern und der große Bruder sollten die Glückwünsche erhalten und das Baby ein Geschenk. Dann fragte sie ständig, für welches Kind die Karte wäre und ich wiederholte in Dauerschleife, dass es sich bei dem Neuzuwachs um ihren zweiten Urenkel handeln würde und der erste schon drei Jahre alt sei.

Dann redete ich ihr gut zu und gab ihr einen neuen Kugelschreiber, den ich extra mitgebracht hatte. Schließlich kenne ich den Kugelschreiberverschleiß meiner Mutter. Ich hatte ihr in der Vergangenheit schon wer weiß wie viele Kugelschreiber geschenkt. Aber die würden angeblich alle nicht gut „gehen“. Jedenfalls behauptet sie das.

Als sie endlich mit dem Schreiben anfing, erkannte ich sofort ihr Problem. Meine Mutter kratzte regelrecht den vorgefassten Text auf die Glückwunschkarte. Kein Wunder, denn sie hielt den Kugelschreiber viel zu weit oben und setzte viel zu schräg zum Schreiben an. Auf diese Weise konnte die kleine Kugel gar nicht richtig rollen und ihre Fassung kratzte auf dem Papier. Aber der Text war niedlich und entsprach genau dem, was meine Mutter an Freude ausdrücken wollte über den kleinen Fidibus. So konnte ich später zu Hause die Karte „eintüten“, mit der Adresse versehen und losschicken.

Bevor ich wieder ging, wollte ich noch den Pullover meiner Mutter zum Waschen mitnehmen. Dazu hätte sie ihn natürlich erst einmal ausziehen müssen. Aber sie fühlt sich so wohl in ihrem Lieblingspullover, den sie täglich trägt, dass sie sich nicht von ihm trennen kann. Ich schlug vor, sie könne doch so lange ihren anderen flauschigen Pullover anziehen, der ihr doch auch gefallen würde. Woraufhin sie entgegnete:

„Meinen Pullover brauche ich nicht zu waschen, den hänge ich mal an die frische Luft in den Sonnenschein oder in den Mondschein. Dann ist er wieder wie neu.“ Gut, ich habe es noch nicht ausprobiert, ob der Mond getrocknetes Eigelb und Kaffeeflecken per Lichtenergie entfernt, aber ehrlich gesagt, setze ich bei Flecken und Waschmitteln lieber darauf, dass die Chemie zwischen ihnen stimmt.

Geisterbahngefühle im Elternhaus

Als mein Mann und ich nach Hause kamen, blinkte der Anrufbeantworter, wie immer. Aha, dachte ich sofort, wahrscheinlich hat meine Mutter mal wieder eine neue Anfrage-Serie nach ihrer Sparkassenkarte gestartet. Aber es war meine Schwester, die sich Sorgen machte, weil unsere Mutter telefonisch einfach nicht erreichbar war und auch die Tür nicht geöffnet hatte für die angekündigte Lebensmittellieferung vom Supermarkt um die Ecke.

Mir wurde ganz anders und ich rief meine Schwester zurück. Wir beschlossen, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde, um nach unserer Mutter zu schauen. Mein Mann bot gleich an, mich hinzufahren, was ich gerne annahm. Ich schnappte mir meine Betreuungstasche und wir fuhren los. Unterwegs ging mir alles Mögliche durch den Kopf: Vielleicht funktioniert nur ihr Telefon nicht. Aber die Klingel wird nicht gleichzeitig kaputt sein. Liegt meine Mutter vielleicht auf dem Fußboden? Hoffentlich hat sie sich dann nichts gebrochen. Gut, dass sie so viele Teppiche hat. Wie lange könnte sie da womöglich schon liegen? Mittagessen hatte sie höchstwahrscheinlich noch bekommen, sonst hätten die vom Feinkostladen angerufen. Habe ich die Telefonnummer vom Hausarzt? Ja! Und wie hieß noch das Beerdigungsinstitut, das meinen Vater unter die Erde gebracht hatte? Ich spürte Tränen in mir aufsteigen, konnte mich aber schnell wieder fangen. Nur die Ruhe, sagte ich mir, du musst jetzt einen klaren Kopf behalten, denn genau da drin ist die wichtigste Telefonnummer gespeichert, die 112.

Wir rasten über die Autobahn. Zum Glück war kein Stau. In der Stadt kam man wegen des beginnenden Berufsverkehrs und der vielen Ampeln nur langsam voran. Die Fahrt kam mir endlos vor. Meine Unruhe wuchs unaufhörlich, bis wir endlich da waren.

Während mein Mann einen Parkplatz suchte, lief ich sofort zur Haustür. Vor Aufregung konnte ich im Halbdunkel zunächst den Haustürschlüssel nicht finden. Es sind so viele Schlüssel am Schlüsselbund. Als ich endlich im Haus war, ging ich wie in Trance durch das Treppenhaus. Meine Hände zitterten, als ich an der Wohnungstür stand. Jetzt hatte ich zwar den richtigen Schlüssel zur Hand, aber Schwierigkeiten ihn ins Schlüsselloch zu bekommen. Mein Mann war noch draußen. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Langsam öffnete ich die Tür und hörte plötzlich laute Geräusche.

Als ich das dunkle Wohnzimmer betrat, herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum, der in einer Geisterbahn stattfindet. Die einzige Lichtquelle war der große neue Fernseher, der an beiden Seiten von blauen Lämpchen gesäumt ist. Vom Bildschirm flimmerte mir die bunte und laute Reizüberflutung entgegen. Dann sah ich meine reglose Mutter im Fernsehsessel. Ihr Körper war in sich zusammengesunken, der Kopf nach vorne gefallen. Mich überkam ein beklemmendes Gefühl. Plötzlich ein Schrei. Ich zuckte zusammen. Der Filmthriller Psycho war in meinem Kopf wieder präsent. Ich hatte das Gefühl, mein Herz bleibt stehen. Plötzlich bewegte sich meine Mutter und rief laut: „Hast du mich erschreckt.“

Ich schnappte nach Luft und brachte mit trockener Kehle nur ein Wort heraus: „Mama“. Dann ging ich zu ihr und nahm sie in die Arme. Ein Gefühl der Erleichterung und Freude überkam mich. Dann schaltete ich erst einmal das Licht ein und rief meine Schwester an, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung wäre. Meine Mutter bekam schnell mit, dass wir uns Sorgen um sie gemacht hatten.

„Was macht ihr euch eigentlich immer für Gedanken,“ meinte sie keck. “Ihr müsstet doch wissen, dass ich immer am ersten Mittwochnachmittag im Monat beim Frauenbund drüben bin. Dann fügte sie noch tadelnd hinzu: „Das könnt ihr euch mal hinter die Ohren schreiben.“ Gott sei Dank, dachte ich, ihr scheint es gut zu gehen, sie meckert sogar. Man könnte  auch sagen: Zuerst „das kleine Fernsehnickerchen“,  dann „die große Klappe“.

Sonst weiß sie grundsätzlich nie, welchen Tag wir gerade haben. Aber dieses Mal hatte sie recht, es war Mittwoch, und zwar nicht nur der erste im Monat, sondern sogar der Erste im Jahr. Am Tag zuvor war Neujahr und deshalb hatte ich die Wochentage irgendwie nicht auf dem Schirm. Meine Mutter natürlich auch nicht, aber sie wurde von der netten Vorsitzenden des Frauenbundes für alkoholfreie Kultur abgeholt und wieder zurückgebracht, wie ich später erfuhr.

Silvester, also vor zwei Tagen, fragte mich meine Mutter noch: „Welchen Tag haben wir heute.“ Als ich ihr sagte, dass Silvester vor der Tür stünde, war ihr einziges Problem, dass sie keinen Sekt zum Anstoßen im Haus hatte. So viel also zur alkoholfreien Kultur! In diesem Punkt hatte es meine Mutter noch nie so genau genommen und immer mit echtem Sekt angestoßen – Vereinsmitglied hin oder her. Das will sie sich auch jetzt nicht nehmen lassen, obwohl ich ihr sage, dass sich Alkohol nicht mit ihren Medikamenten verträgt. Aber ihr Motto war schon immer: Ein Glas Sekt, Bier oder Wein hat noch niemandem geschadet.

Der Ansicht war sie offenbar schon, als sie mit den beiden Töchtern meiner Schwester vor vielen Jahren einen Mallorcaurlaub gebucht hatte. (Damals war sie keineswegs dement!) Sie bestellte den beiden Mädchen doch glatt einen ganz normalen Cocktail und dachte sich nichts dabei. Omas haben am Ballermann eben nichts zu suchen, schon gar nicht mit süßen Mädels.

Aber ich schweife ab. Meine Mutter saß nun also quietschfidel da und fragte, weshalb ihr eigentlich Lebensmittel geliefert werden sollten. Das könne sie sich doch alles selber einholen. Wie ihre jüngste Tochter überhaupt dazu käme, ihr von Bayern aus Lebensmittel zu bestellen. Die solle sich nicht immer dazwischen stecken. Am Tag zuvor hatte sie noch abends ganz kleinlaut bei meiner Schwester angerufen, um ihr zu sagen, dass sie kaum noch etwas zu essen im Hause hätte. Aber davon wusste sie natürlich nichts mehr. Durch ihre Demenz lebt sie nur im Hier und Jetzt und in der weit zurückliegenden Vergangenheit. Da müssen wir wohl oder übel irgendwie durch.

Eines habe ich an diesem Spätnachmittag aber gelernt: Wenn meine Mutter weder ans Telefon geht noch ihre Lebensmittel annimmt – keine Panik, es könnte am Frauenbund liegen.

Schauen wir mal, was uns die nächsten Monate noch für Überraschungen mit unserer Mutter bringen. Mein Bedarf an Thrill ist jedenfalls gedeckt. Wird es vielleicht noch Fortsetzungen geben? Nah dann: Prost Neujahr!

Weihnachten in Schwarz Weiß

Am ersten Weihnachtstag wollte ich, wie geplant, meine Mutter zu mir holen. Damit sie sich schon mal bereit machen konnte, rief ich vorher an. Aber sie sagte nur, dass es ihr sehr schlecht ginge und sie lieber zu Hause bleiben würde. Sie hätte Bauchweh. Zu ihren ständigen Rückenschmerzen waren nun also noch Bauchschmerzen und Durchfall hinzugekommen.

Das liegt vermutlich an ihrem unkontrollierten und unregelmäßigen Essen, besonders in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, in der IHR Feinkostladen kein Essen liefert. Sie stopft alles Mögliche in sich hinein und vergisst zu allem Überfluss auch noch, dass sie schon gegessen hat. Außerdem wird die Kühlkette der Lebensmittel im Grunde ständig unterbrochen. Oft vergisst sie nämlich die Lebensmittel in den Kühlschrank zurückzustellen und isst dann sogar halb verdorbene Sachen.

Also schnappte ich mir unseren Angurate Tee und fuhr los. Nachdem ich ihr einen Becher Tee hingestellt hatte, sah ich, in welcher beschissenen Situation sie sich befand und machte schnell ein wenig sauber. Ich wollte auf keinen Fall, dass meine Mutter an diesem Tag alleine zu Hause sitzt.  Also lautete die Devise: Abwarten und Tee trinken. Nachdem wir das getan hatten, ging es meiner Mutter tatsächlich ein wenig besser und sie war bereit mitzukommen. Jetzt musste ich sie nur noch ein wenig herrichten. Was hätte ich dafür gegeben, wenigstens einmal in meinem Leben die bezaubernde Jeannie sein zu dürfen. Aber ich musste improvisieren, wie immer.

Zunächst suchte ich die gute, neue, weite, schwarze Feincordhose meiner Mutter. Aber ich fand sie einfach nicht. Schließlich sah ich, dass die gesuchte Hose bereits am „Mann“ bzw. an der Frau war. Tatsächlich, meine Mutter trug diese Hose, was ich aber nicht erkennen konnte, weil das gute Stück inzwischen alles andere als gut, neu, weit und schwarz aussah.

Eines ist mir sofort klar geworden: Meine Mutter hat die von ihr zunächst abgelehnte Hose inzwischen voll ins Herz geschlossen. Sie trägt keine andere mehr, allein schon deshalb, weil ihr fast alle anderen Hosen zu klein geworden sind. Ich werde ihr bald eine neue Hose kaufen müssen.

Als wir das geklärt hatten, wollte sie den bunten Jacquard Pullover mit Norweger-Muster partout anbehalten. Okay, dachte ich, dann nehme ich die weiße Bluse, die schwarze Glitzerweste und die dicke schwarze mehrreihige 50er Jahre Schmuckstein-Halskette eben mit und versuche es bei uns zu Hause noch mal mit dem Umziehen. Vielleicht kann ich sie dann noch ein bisschen aufpeppen. Früher hatte sie sich an Weihnachten immer gerne in Schwarz Weiß gekleidet.

Als wir schließlich bei uns ankamen, war es schon sehr spät und ich hatte sofort, trotz Vorbereitung und Hilfe meines Mannes, alle Hände voll zu tun, das Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Unsere Tochter und ihr Freund nahmen sich meiner Mutter an und beantworteten bereitwillig und unaufhörlich dieselben Fragen. Als Ablenkung zeigten sie ihr auch immer wieder alle Geschenke.

Als wir am Mittagstisch saßen, sagte meine Mutter aus dem Nichts heraus zu meinem Mann, dass er den dicken Schinken aber unmöglich mit ins Bett nehmen könne. Das wäre viel zu anstrengend, den die ganze Zeit hochzuhalten. Welchen Schinken?, dachten wir. Es gab Rinderbraten und im Bett wird sowieso nicht gegessen. Wir sahen uns irritiert an, bis wir begriffen hatten, wovon sie eigentlich sprach. Sie meinte das dicke Buch, dass mein Mann von unserer Tochter bekommen hatte. Ja, demente Menschen bekommen Gedankensprünge hin, da kommt kein Normalsterblicher hinterher.

Nach dem Mittagessen ging es meiner Mutter viel besser und ich schaffte es, ihr die weiße Bluse anzuziehen. Als sie in den Spiegel sah, fiel ihr auf, wie sauber und weiß die Bluse strahlte. Ich sagte ihr, dass ich das gute Stück neulich bei mir eingeweicht und gewaschen hätte. Dann sah sie wieder in den Spiegel und meinte: „Aber mein Haar brauche ich nicht zu waschen, das ist weiß genug.“ Da kann ich nur sagen, wo sie recht hat, hat sie recht. Der muffige wild gewordene Handfeger auf ihrem Kopf ist weiß genug. Ihr wesentlich jüngerer Bruder brachte es einmal folgendermaßen auf den Punkt: „Wie siehst du denn aus, Margret, hast du dich von deinem Freundeskreis verabschiedet?“

Gut, dass man eine Familie hat, die einen liebt. Sie sagen zwar unbequeme Wahrheiten, aber man ist nicht so allein, was an Weihnachten besonders bitter wäre. So saßen wir also  alle in schwarz weiß gekleidet friedlich am Kaffeetisch. Ich war froh und erleichtert, dass wir ohne weitere Zwischenfälle  soweit gekommen waren. Alles war festlich geschmückt und erstrahlte im Glanz der Lichter. Wer denkt in einem solch kostbaren Moment schon an die Frisur.

­­Abends spät konnte ich endlich auf der Couch sitzen und durchatmen. Meine Mutter hatte ich inzwischen wieder nach Hause gebracht, umgezogen und vor den Fernseher gesetzt. In meinem Handy sah ich nun Weihnachtsgrüße und -fotos mit ganzen Familien in bunten Weihnachtspullovern mit Tannenbaum-Hintergrund. Und mir wurde schlagartig klar, dass meine Mutter mit ihrem Pullover voll trendy gewesen wäre. Ich fragte mich, warum ich ihr eigentlich die festliche schwarz-weiße Kleidung angezogen hatte. Manchmal sollte man den Dingen einfach ihren Lauf lassen.

Als ich meine Mutter am nächsten Tag anrief, sagte sie, es gäbe gerade einen schönen Film im Fernsehen. Es ist mit Fiffy. Ach, ein netter Hundefilm, dachte ich, und wollte sie nicht stören. Dann sah ich in die Programmzeitung und musste laut lachen. Zu Weihnachten gab es natürlich Sissi, was sonst. Ich hätte es wissen müssen. Jedes Jahr läuft im Grunde dasselbe Fernsehprogramm. Auch an Silvester. Da heißt es dann wieder: Dinner for one. Natürlich in Schwarz Weiß, ohne bunten Weihnachtspullover, eben ganz klassisch.

Ich frage mich nur, ob die Mitglieder des Frauenbundes für alkoholfreie Kultur dieses beliebte Bühnenstück überhaupt anschauen und darüber lachen dürfen. Ich werde es jedenfalls gemeinsam mit meinem Mann tun. In diesem Sinne: Prosit Neujahr!!!

Sicher kochen mit Strumpfhaltern

Als ich noch Single war und mein Vater noch lebte, machten meine Eltern und ich einmal zu Weihnachten einfach so zum Vergnügen ein Rollenspiel. Wir saßen alle am Esstisch und mein Vater war der Graf, mir wurde die Rolle der Gräfin zugedacht und meine Mutter sollte das Kind spielen; es hieß Esmeralda Katastropha. Unser Esmeraldchen war unverbesserlich und hatte nur zwei Dinge im Kopf: Gärten und Bücher. Man konnte nun meinen, dass wir den gepflegtesten „Schlossgarten“ hätten und Esmeraldchen besonders gebildet wäre, aber sie war im Garten nur an der Ernte interessiert und bei Büchern nur am Verschlingen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Früchte aß sie und die Geschichten vergaß sie.

Esmeralda, äähhh meine Mutter hat im richtigen Leben vier Kinder zur Welt gebracht. Zuerst zwei Jungen und dann zwei Mädchen. Ihre Jüngste, also meine Schwester, hat sich immer verantwortlich gefühlt und um vieles gekümmert. Man könnte sagen, Initiative ist ihr zweiter Vorname. Sie hat immer wieder den sehr weiten Weg auf sich genommen und alles stehen und liegen lassen, um unsere Mutter zu besuchen oder sie zu sich zu holen und ihr Heilpraktiker-Behandlungen und Massagen zu kommen zu lassen. Sie machte es wie selbstverständlich, obwohl unsere Mutter jedes Mal stundenlang und tagelang zu ihrem Glück überredet werden muss.

Mein zweiter Vorname ist Anpassung. Ich fühlte mich schon immer für die Harmonie zuständig. Dafür habe ich versucht alles passend zu machen und selber oft zurückgesteckt. Das war natürlich meiner Persönlichkeitsentwicklung nicht zuträglich. Ab und zu beschwert sie sich bitter. Und es ist wahnsinnig kräftezehrend, immer als Harmonie-Beauftragte zu agieren: im Elternhaus, im Zuhause mit der Schwiegermutter damals, in der Arbeit, in Gruppen… Zum Glück kann ich mich beim Schreiben austoben und muss mich da nicht zurückhalten – ein gutes Gefühl.

Und dann ist da noch mein dritter Vorname, die Ordnung, die mein Leben mitbestimmt. Ich muss immer alles im Überblick behalten, was mir zu Hause auch wunderbar gelingt. Auch bei der Vermögenssorge meiner Mutter läuft alles wie am Schnürchen und ich weiß, was zu tun ist. Aber in Bezug auf mein Elternhaus sind Hopfen und Malz verloren. Das hatte mich schon früher gestört. Aber damals war meine Mutter noch nicht dement und wusste mit ihrem hausgemachten Chaos sehr gut umzugehen. Inzwischen hat auch sie den Überblick völlig verloren. Da passiert es schon mal, dass Kleidungsstücke für Tage „verschwinden“ und dann wie aus dem Nichts wieder auftauchen.

Meine Schwester hat dann immer folgenden Spruch auf den Lippen: „In einem geordneten Haushalt geht nichts verloren“, sagte die Mutter und fischte den Strumpf aus der Tomatensuppe.

Gut, Letzteres ist bei uns natürlich nie vorgekommen. Und jetzt kann es nicht passieren, denn unsere Mutter kocht nicht mehr selbst. Schade eigentlich, denn ihre Tomatensuppe war immer sehr schmackhaft – auch ohne solche „Geschmacksverstärker“.

Weihnachtsgeld für Vermieter! Neues Geschäftsmodell?

Meine Mutter hat ein neues Geschäftsmodell, um an Bargeld zu kommen. Und außerdem hat sie Sonderwünsche. Sie will das Geld in „kleinen Scheinen“.

Ihre neueste Strategie ist folgende: Sie wolle ihren Mietern Weihnachtsgeld geben. Das wolle sie ihnen in Umschlägen zusammen mit Weihnachtskarten auf die Treppenhaustreppe legen.

Ich sagte ihr, dass sie schon lange keine Weihnachtskarten mehr schreiben würde und dass, solange ich denken kann, kein Mieter unseres Hauses je Weihnachtsgeld bekommen hätte. Abgesehen davon habe ich auch noch nie gehört, dass irgendein Mieter auf der Welt Weihnachtsgeld vom Vermieter erhält.

Bei der momentanen Wohnungsknappheit würde es mich allerdings nicht wundern, wenn die VERmieter in Zukunft mit dieser Art von Zuwendung bedacht werden. Nur um an eine Wohnung zu kommen, würden viele Leute heute sicher einen Mietvertrag unterschreiben mit vereinbarter jährlicher Weihnachtsgeldzahlung an ihren Vermieter. Den Floh habe ich meiner Mutter aber nicht ins Ohr gesetzt. Am Ende verlangt sie tatsächlich noch Geld von den drei Männern im ersten Stock.

Natürlich fragte ich mich, wofür meine Mutter plötzlich wieder Bargeld haben wollte. Sie geht kaum noch aus dem Haus; und wenn sie doch mal etwas einkaufen möchte, geht sie ausnahmslos zu EDEKA, wo sie alles mit ihrer Kundenkarte bezahlen kann. Alles läuft also bargeldlos wie am Schnürchen. Ich hätte noch verstanden, wenn sie das Geld für das Pflegedienst-Team und ihre persönlichen Hilfen gewollt hätte. Aber davon war nicht die Rede. Um diese Art „Weihnachts-Schmerzensgeld“ durfte ich mich selber kümmern. Was ich natürlich auch getan habe.

Nein, das Bargeld war mal wieder für ihren einen Enkel gedacht, der wie in alten Zeiten zu ihr gekommen war, weil er „dringend“ Geld brauchte. Vermutlich tischte er ihr wieder irgendwelche Lügengeschichten auf, um ihr Mitleid zu wecken. Denn wenn er ankündigen würde, dass er das Geld für Drogen bräuchte, würde meine Mutter ihm nichts geben. Sie möchte ja, dass aus ihm „etwas wird“, und dafür braucht man zum Beispiel neue Schuhe – wenn es sein muss auch täglich. Zum Glück kann sie nicht mehr ausgenommen werden wie eine Weihnachtsgans.

Da muss der Enkel eben mit bargeldlosen Weihnachtsgrüßen in ein hoffentlich abhängigkeitsfreies 2019 starten. Das Blatt hat sich gewendet, und das ohne Weihnachtskarte.

Der Ohrwurm starb nicht im frühen Morgenrot – es war Nachmittag

An ihrem Geburtstag besuchte ich meine Mutter. Vormittags traf ich bei ihr ein. Mitgebracht hatte ich einen kleinen und einen großen Weihnachtsstern, zwei neue Wollpullover, einen selbst gebackenen Kuchen, Kerzen, Orangensaft und Sekt, von denen ich wusste, dass ich sie höchstwahrscheinlich wieder mitnehmen würde. Aber man weiß ja nie wer kommt. Ich hatte alles im Korb, wie bei dem Märchen »Rotkäppchen und der Wolf«. In meinem Fall hätte allerdings eher der Titel »Schwarzkäppchen und der Frust« gepasst.

Den Abend vorher hatte meine Mutter mich angerufen und gesagt, dass sie Angst davor hätte, Besuch von ihren Freundinnen zu bekommen. Sie wäre allein bei dem Gedanken daran schon krank und würde schlecht Luft bekommen. Ich konnte sie beruhigen und ihr versichern, dass die vier Damen nicht kommen würden. Aber auch ihre Befürchtung, dass eben diese Freundinnen sie in Zukunft nicht mehr einladen würden, wenn sie nicht einlud, flammte immer wieder bei ihr auf. Dabei war es genau das, was sie sich wünschte. Sie will einfach keinen Besuch mehr von „Fremden“ bekommen und zu denen will sie auch nicht mehr gehen. Telefonisch mit ihnen in Verbindung bleiben ist aber okay für sie.

Als ICH dann kam, freute Sie sich sehr und ließ mich alles auspacken, was ich dabei hatte. Einer der beiden neuen Pullover gefiel ihr auf Anhieb und ich half ihr sofort bei der Anprobe. Sie fühlte sich pudelwohl darin und ich schnitt das Preisschild ab, damit es nicht irgendwo hängen bleiben konnte. Als sie sich etwas später im Spiegel ansah, war die Begeisterung schlagartig vorbei.

Okay, dann probieren wir mal den anderen Pullover an, der ihr plötzlich besser gefällt, dachte ich. Gesagt getan. Sie ließ ihre Hand darüber gleiten. Ja, der ist weicher, weiter, dicker und roter. Rot ist ihre absolute Lieblingsfarbe. By the way: Als Kind trug ich nur rote Pullover. Meine Geschwister und ich hatten ganz früher an der Ostsee sogar rote Badehosen an. So rot, wie die bei Baywatch. Allerdings waren unsere von unserer Mutter selber gestrickt, und wir hätten uns im Notfall selbst retten müssen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Diesen zweiten Pullover wollte meine Mutter gleich anbehalten und ich schnitt auch dieses pikende Preisschild heraus. Als sie sich dann später im Badezimmer-Spiegel anschaute, sagte sie barsch: „Den Pullover kannst du gleich wieder hinbringen.“

So zog ich ihr wieder den ersten Pullover an und legte das rote Exemplar heimlich in ihre große Herrenkommode. Dann setzten wir uns an den Tisch und betrachteten die Weihnachtsdekoration. Das riesige Transparent mit Maria, die durch den Dornwald geht, leuchtete auf dem Klavier. Die Kerzen brannten und die Weihnachts-Pyramide drehte sich unaufhörlich.

Letztes Jahr hatten meine Schwester und ich die Pyramide erst nach sehr langer und verzweifelter Suche im Kleiderschrank hinter einem Stapel Nachthemden gefunden. In diesem Jahr fand ich sie in der Herrenkommode quasi uneinsehbar hinter Taschen und Bandagen versteckt – Bandagen, die nicht ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen konnten, weil sie kurz nach dem Erhalt abgeschoben worden waren. Ich schätze, dass neunzig Prozent der verordneten Bandagen ziemlich schnell in die Kleiderschränke ihrer Besitzer wandern, wo sie dann ihre letzte Ruhe finden. Über eine kurze Probephase kommen sie meist nicht hinaus – ich meine die Bandagen, nicht ihre Besitzer.

Die Bandagen meiner Mutter dürften neidisch auf die Weihnachts-Pyramide sein, denn die darf immerhin jedes Jahr vier Wochen laufen, und das ohne Knie, und ohne, dass sie perfekt sitzen muss; sie passt in die Weihnachtszeit und ist überaus beliebt, im Gegensatz zur Bandage, die einen unter Umständen genauso umbringen kann, wie ein Hüfthalter. Aber ich schweife ab.

Meine Mutter und ich saßen also bei Kerzenschein und aßen zu Mittag. Im Laufe des Tages kamen immer wieder Anrufe. Auch von einer alte Chor-Freundin, die viel jünger ist als meine Mutter. Sie rief an, um zu gratulieren. Meine Mutter machte ihr Vorwürfe, dass sie so lange nichts von sich hören lassen hätte. Die Freundin entschuldigte sich mit den Worten, dass ihr Freund gestorben sei. Meine Mutter bedauerte das, hatte es aber augenblicklich wieder vergessen und fragte dann sofort wieder nach dem Befinden der Freundin. Diese sehr liebe und verständnisvolle Frau weiß zum Glück, dass meine Mutter dement ist, und versprach nachmittags zum Kaffee vorbeizukommen. Der Besuch einer einzelnen zusätzlichen Person tut gut und ist ganz zwanglos. Wir freuten uns darauf.

Nachdem meine Mutter aufgelegte hatte, fing sie an zu singen – oder sollte ich eher brummen sagen? Und dazu trommelte sie im Takt mit den Fingern auf den Tisch, wie sie es oft macht. Die Melodie kam mir allmählich bekannt vor. Ab und zu brachte meine Mutter auch den einen oder anderen Textbrocken hervor. „Mein Schatz der Freund ist tot …“, hörte ich. Und plötzlich wusste ich, welches Lied sie so begeistert und inbrünstig vortrug und mir fielen sofort die richtigen Zeilen ein: „Mein Freund der Baum ist tot, er starb im frühen Morgenrot.“ Es war das Lied, mit dem die Sängerin Alexandra 1968 einen Hit landete. Die hatte sich in diesem Moment mit Sicherheit im Grabe herumgedreht. Der Vortrag meiner Mutter war irrwitzig und irgendwie total skurril.

Als kurze Zeit später meine Schwester anrief, trommelte meine Mutter immer noch singend auf dem Tisch herum und ich bekam einen Lachkrampf bei dem Versuch, meiner Schwester den Grund dafür zu erklären. Das Trommeln und das Lachen schaukelten sich langsam hoch. Schließlich lachten wir alle drei zusammen, laut und ungehemmt. Es war ein herrlich befreiendes Gefühl.

Immer wieder setzte ich atemlos zum Versuch an, meiner Schwester zu erzählen, was der im Grunde traurige Anlass für unser Gelächter war. Aber mit meiner singenden, trommelnden Mutter vor mir konnte ich vor Lachen nicht weitersprechen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich zu Ende erzählen konnte.

Für einen kurzen Moment hatte ich meine nicht so lustige Betreuungssituation vergessen. Aber dann leuchtete schon wieder eine innere Warnlampe auf. Inständig hoffte ich, dass sich der „Ohrwurm“ meiner Mutter verdünnisieren würde, bevor die nette Freundin zum Kaffeetrinken eintraf. Denn diese Art der Anteilnahme kommt bei echter Trauer nun mal nicht wirklich gut an, besonders, wenn sie so inbrünstig vorgetragen wird. Feingefühl gehörte noch nie zu den Stärken meiner Mutter. Und jetzt hat es sich endgültig von ihr verabschiedet. Aber wer sie kennt, weiß, dass sie im Grunde ein gutmütiger Mensch ist, und das ist es doch, was die Menschlichkeit ausmacht.

Funkwellenfreies Handy im Strumpf

Meine Mutter sagt immer, was sie denkt, auch wenn sie gar nicht gefragt wird. Würden das alle Menschen tun, wäre ein friedliches Zusammenleben auf der Welt wohl kaum möglich. Bei meiner Mutter geht diese Art der Ehrlichkeit aber auch noch mit Wechselhaftigkeit einher, was größtenteils ihrer Demenz geschuldet ist. Wenn sie ihre Kleidung so oft wechseln würde, wie ihre Meinungen und Absichten, wäre sie die gepflegteste Erscheinung auf Erden.

Sie sagt, sie wäre eben so, wie sie ist. Der liebe Gott würde nur Einzelstücke anfertigen. Bei ihr kommt nun also das kleine eigensinnige Einzelstück ihrer Kindheit wieder voll zum Vorschein. Auch das Duschen und Haare waschen umschifft sie so gut sie kann. Neuerdings will sie ausschließlich ihren rotbunten Jacquard-Woll-Pullover in Kombination mit ihrer braun-karierten Hose tragen, sogar zur Frauenbund-Adventsfeier. Aber das konnte ich gerade noch verhindern.

Obwohl ich zugeben muss, wenn ich die neuste Mode betrachte, ist so etwas Schräges total angesagt. Kaum zu glauben, aber karierte und bunte Muster sind voll im Trend, sogar in wilden Kombinationen. Meine Mutter hat keine Ahnung von Mode, aber sie weiß, wie praktisch Buntes ist; man sieht nämlich nicht gleich jeden Fleck. Trotzdem würde ich ihren Wollpullover gerne mitnehmen und nach Pflegeanleitung waschen. Zum einen, damit er nicht so winzig wird wie sein Vorgänger (es lebe die Kochwäsche) und zum anderen, weil der Pullover vor ihrer Brust, wo sich alles weit nach vorne wölbt, inzwischen merklich dunkler geworden ist. Außerdem hat er am Ellenbogen ein sich ausbreitendes Loch, das dringend gestopft werden muss.

Man könnte jetzt dagegen halten, dass teure Designer-Jeans ja auch Löcher hätten und Designer-Schuhe an den Spitzen absichtlich schmuddelig dunkler gemacht würden. Das ist zutreffend und man nennt diesen Trend Used-Look. Ich glaube jedoch nicht, dass irgendjemand den Pullover meiner Mutter als Designer-Stück durchgehen ließe – schon gar nicht ihre Senioren-Freundinnen. Die würden sofort sehen, was wirklich los ist. Meiner Mutter scheint das egal zu sein, mir aber nicht. Denn letztlich fällt doch alles auf mich, als Betreuerin, zurück. Deshalb habe ich ihr heimlich zwei neue rot-bunte Jacquard-Pullover bestellt, die ich ihr zum Geburtstag „unterjubeln“ werde. Offiziell geht diesbezüglich gar nichts, das ist ja das Problem. Andere Mütter würden sich freuen, wenn ihre Töchter ihnen schicke, bequeme Sachen kaufen würden.

Sie sehen schon, meine Mutter ist ein Einzelstück, das einen fertigmachen kann. Einerseits will sie so sein, wie sie eben ist, andererseits will sie ihre vornehmen Freundinnen zu ihrem bevorstehenden Geburtstag einladen. Eigentlich hat sie Angst davor, weil ihr bewusst geworden ist, dass sie nicht mehr an der Unterhaltung teilnehmen kann und, dass ihr das alles zu viel wird.

Im letzten Jahr sollte ich mich noch um alles kümmern. Freie Hand ließ sie mir dabei allerdings nicht gerade. Es hätte auch nicht viel genützt, denn die freie Hand kann nun mal nicht zaubern und schon gar nicht aus dem bockigen Kind eine gepflegte Gastgeberin machen. Deshalb wird auch in diesem Jahr nicht gefeiert und sie ist erleichtert.

Aber für die passive Teilnahme an einer Adventsfeier war meine Mutter bereit. Mit Engelszungen redete ich auf sie ein. Schließlich gelang es mir, sie nicht nur zur weißen Bluse, Strickjacke und schwarzer Hose zu überreden, sondern sie auch in selbige hineinzuquetschen. Dann hängte sie sich ihr Handy um, dass sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Das steckt in einer Art Strumpf mit einer langen Kordel dran.

Seitdem sie ein Handy besitzt, ist sie daran gewöhnt es sich umzuhängen, sobald sie das Haus verlässt. So fühlt sie sich sicherer. Die Tatsache, dass es nicht funktioniert, weil weder Akku noch Guthaben aufgeladen sind, ist ihr nicht bewusst und das ist auch nicht notwendig. Denn was würde ihr ein einsatzbereites Handy nützen, das sie definitiv nicht mehr bedienen kann?

Sie ist grundsätzlich davon überzeugt, dass sie noch alles kann, aber nicht ausschließlich. Es wechselt. Und ich versuche weitestgehend meiner Mutter die Illusionen zu erhalten und sie so leben zu lassen, wie sie es gewohnt ist. Das entspricht zwar nicht den Standards, aber auf diese Weise lebt sie so, wie sie es möchte in ihrem kleinen Demenz-Mikrokosmos mit Löchern im Pullover, die sie sich allerdings nicht vom Einsatz in unserer Ellenbogengesellschaft geholt hat – nein, die sind einfach nur vom Zahn der Zeit hineingearbeitet worden.

Wenn Konsumenten in die Röhre schauen

Als Betreuerin meiner Mutter bekam ich Post von ihrer Versicherung. Es ging um das Haus, das schon seit Jahr und Tag bei genau dieser Gesellschaft versichert war. Der zuständige Sachbearbeiter bedankte sich für die Treue und wollte weiterhin alles daran setzen, meine Mutter als zufriedene Kundin zu begleiten.

Außerdem informierte er darüber, dass die Versicherung ihre Produkte laufend der veränderten Marktsituation anpassen müsste. Da der Vertrag meiner Mutter seit mehreren Jahren nicht aktualisiert worden sei, wäre ihr Wohngebäude-Versicherungsschutz nicht mehr zeitgemäß. Es würde sich bei ihr um ein veraltetes Produkt handeln. Moderne Versicherungsprodukte bekämen eine Prämienanpassung. Das „unmoderne Produkt“ meiner Mutter würde die Gesellschaft vom Markt nehmen. Aber großzügigerweise machen sie uns ohne Überprüfung ein individuelles Umstellungsangebot. Wir dürfen den Vertrag auf den neusten XXL-Tarif anpassen.

Wow! Wie lange muss ein Mensch BWL mit Schwerpunkt Marketing studiert haben, um eine Preiserhöhung so rüberbringen zu können? Aber, was mich nach dem Lesen des Briefes hauptsächlich beschäftigt hat: Warum ist eine Versicherungspolice ein Produkt?

Bis jetzt dachte ich immer, ein Produkt sei ein Ergebnis oder ein Ertrag. Mit anderen Worten, dass da etwas hergestellt wurde oder etwas herausgekommen ist. Wenn ich an ein Produkt denke, sehe ich vor meinem geistigen Auge z.B. Stiefeletten, Klamotten oder Taschen. Andere sehen z.B. Zigaretten, Karossen oder Flaschen. Man denkt also üblicherweise an Gegenstände. Das war gestern. Marketing sei Dank, wird heute einfach alles in Produkte aufgeteilt. Genauso wie Menschen in Zielgruppen eingeteilt werden. Die Menschen in den Zielgruppen nennt man Konsumenten, zu gut deutsch Verbraucher.

Oft wissen die dummen Zielgruppen aber gar nicht, was sie so alles brauchen; bis man es ihnen sagt. Und zwar besonders oft und meistens penetrant und meistens laut. Das nennt man Promotion, zu gut deutsch: Werbung. Es gibt schöne Werbung und weniger schöne Werbung. Die Geschmacklosigkeit kennt dabei keine Grenzen. Es bedarf einiger Einwirkzeit, bis die Zielgruppen endlich anbeißen. Dann fangen sie an, diese Produkte zu kaufen und meistens sogar zu (ver-)brauchen. Das nennt man Konsum. Nach einer Weile fragen sie sich dann sogar, wie sie vorher ohne diese Produkte (über)leben konnten. Das nennt man Abhängigkeit. Bingo! Es hat geklappt. So geht Marketing, und zwar mit jedem Produkt.

Will man sich versichern, kauft man also ein Versicherungsprodukt. Will man Geld sparen oder anlegen, kauft man ein Finanzprodukt. Selbst wenn dabei im Endeffekt Geld verloren wird, wie z.B. bei Aktien, Immobilien-Fonds oder Schiffsbeteiligungen, ist das ja auch ein Ergebnis, wenn auch ein schlechtes Ergebnis. Der Anbieter der Produkte kann in jedem Fall ein gutes Ergebnis für sich verbuchen. Das nennt man Provision.

Auch Krankenhäuser müssen heute kostendeckend arbeiten und spezialisieren sich deshalb auf bestimmte Produkte. Braucht man eine neue Hüfte, ein neues Knie oder eine Magenverkleinerung, also ein Dienstleistungsprodukt aus dem medizinischen Bereich? Dann wird man als Patient umworben. Dafür werden in Krankenhäusern Verkaufsveranstaltungen, ähh Vorträge gehalten. Am beliebtesten sind bei den Anbietern, ähh Ärzten und Kliniken solche Erkrankungen, die wie am Fließband durchlaufen und gut abzurechnen sind, die also als Fallpauschale in der Preisliste der Krankenkassen aufgeführt sind. Für diese Produkte zahlen die Krankenkassen, die sich in der günstigen Position befinden, Rabatt abziehen zu dürfen.

Krankenkassen sind Versicherungen, denen das Geld, über das sie verfügen dürfen, so gut wie automatisch zufließt. Das nennt man Krankenversicherungspflicht. Sie wollen, dass es den Menschen gut geht, und gehen mit gutem Beispiel voran, insbesondere bei ihren Vorständen und Angestellten. An Gehältern und Ausstattung wird nicht gespart.

Wir waren beim Produkt. Nun stellt sich die Frage, ob es vorteilhafter ist, an der Erkrankung zu leiden, für die ein passendes Produkt angeboten wird. Wie auch immer, mit oder ohne Operation. Wenn die Krankenhäuser mit ihren Produkten durch sind, müssen sie die Leute in jedem Fall schnell wieder loswerden. Das kann folgendermaßen aussehen: Zuerst wird man in die Röhre geschoben, dann guckt man in die Röhre und es heißt: „Nichts geht mehr.“ Das nennt man Rationalisieren.

Seine Krankheit kann man sich nicht aussuchen, wie es so (un-)schön heißt. Aber eines kann man tun: Erkrankungen vermeiden. Da weltweit inzwischen die vermeidbaren Erkrankungen überwiegen, liegt also viel Potenzial darin, sich ein Produkt aus dem medizinischen Bereich zu er-sparen. Es ist eine echte Chance, Leute!

Produkte sind Fluch und Segen zugleich. Auf die meisten können oder möchten wir nicht mehr verzichten. Die ganze Welt ist voller Produkte, alles dreht sich um sie. Sogar wir Menschen sind Produkte, Produkte unserer Eltern, unserer Erziehung und Umwelt. Man kann sagen:

„Geld regiert die Welt!  – Aber Produkte beherrschen sie!“

Wenn der Grabbläser den Eicheln was pustet

Am nächsten Sonntag ist Totensonntag. Deshalb fuhr ich mit meiner Mutter wie üblich zum Friedhof, um das Grab zu diesem Anlass frisch herzurichten. Ich überlegte, ob ich meine Tasche im Auto lassen sollte. Weil Autos immer häufiger an Friedhöfen aufgebrochen werden, nahm ich sie lieber mit.

In nächster Nähe unseres Familiengrabes stehen mehrere Rieseneichen. Entsprechend viel Laub fällt um diese Jahreszeit unaufhörlich herunter. Als wir ankamen, konnten wir unser Grab zunächst kaum sehen. Es war fast völlig mit Eichenblättern bedeckt. Die meisten anderen Gräber, die sich in der Nähe befinden, werden von Friedhofsgärtnern gepflegt, was man an einer Markierung erkennt, die vorne auf den Gräbern steckt. Ein Mann war auch gerade damit beschäftigt, das Laub von den Gräbern zu blasen, für die er zuständig ist. Aber ich denke, wenn beim Blasen die Eicheln ignoriert werden, kann wohl kaum ein befriedigendes Ergebnis dabei herauskommen. Außerdem ist das Ganze mit sehr viel Krach und Abgasen verbunden. Seit der Erfindung des Laubbläsers ist die viel gepriesene Friedhofsruhe dahin. Aber ich schweife ab.

Wie Sie sich schon denken können, wurden die Blätter nicht weggebracht, sondern nur umverteilt. Dreimal dürfen Sie raten, wo sie landeten. Aber Schwamm, ääh Harke drüber.

Ich stellte meine Utensilien und meine Tasche mit etwas Abstand zum Grab ab, damit ich auch drum herum alles frei harken konnte. Während ich beschäftigt war, vermied der Gärtner freundlicherweise, weiteres Laub in unsere Richtung zu blasen. So kam ich gut voran und konnte auch die Eicheln aus den Bodendeckern herausholen, von denen es in diesem Jahr besonders viele gibt.

Während meine Mutter auf dem Rollator saß und mich „unterhielt“, befreite ich das Grab von allem, was da nicht hingehörte. Körbeweise brachte ich die zusammengeharkten Blätter, einschließlich Eicheln, zum sehr nahe gelegenen Abfallkorb und erntete ein paar mitleidige Blicke vom Gärtner. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten, sagte ich mir. Nach getaner Arbeit war unser Grab nämlich das einzige im Umkreis, das nicht voller Eicheln war, die später wie Unkraut keimen. Im Frühjahr muss ich nicht mühsam die Mini-Eichen herausreißen. Ich denke, mit dem Laubblasen ist es so, wie es im Leben oft ist: Zuerst wird viel Wirbel gemacht und am Ende kommt wenig dabei heraus.

Außer dem Laubbläser hielten sich noch zwei andere Gärtner in unserer Nähe auf, die mit einem anderen Grab beschäftigt waren. Die junge Frau pflanzte und steckte Tannengrün, während der ältere Kollege zusah und Ratschläge gab. Das nennt man Arbeitsteilung.

Dann erblickte ich noch einen anderen Mann, der langsam immer näher kam. Er sah nicht nach einem Gärtner aus, aber auch nicht wie ein Friedhofsbesucher, der auf dem Weg zu dem Grab eines Angehörigen ist. Als ich zu ihm aufsah, guckte er schnell weg. Dann stellte er sich an ein sehr nahe gelegenes Grab und steckte sich eine Zigarette an. Ich musste unwillkürlich immer wieder in seine Richtung schauen. Was will der da?, dachte ich. Der Grabbläser war inzwischen fertig mit seiner Verteilungsarbeit und entfernte sich.

Mein Portemonnaie hatte ich in meiner inneren Jackentasche, aber mein Handy und mein ”Betreuungs-Täschchen“ mit einigen wichtigen Unterlagen waren in meiner Tasche, die immer noch dort stand, wo ich sie abgestellt hatte. Intuitiv nahm ich sie an mich und packte erst dann langsam alle Utensilien zusammen, die ich für die Grabpflege mitgebracht hatte.

Die Sonne schien und ich genoss die Stille ohne den Lärm, soweit es eben möglich ist mit einer Mutter, die ständig reden muss. Dann atmete ich tief durch. „Endlich ist die Luft rein“, freute ich mich. Als ich wieder zu dem geheimnisvollen Mann hinüber sah, war er verschwunden. Merkwürdig! Er hatte wohl auch darauf gewartet, dass „die Luft rein ist“, allerdings in einem anderen Sinne. Und das war sie definitiv nicht, den das ungleiche Gärtnerpaar beschäftigte sich immer noch in unserer Nähe.

Schließlich gingen wir langsam den Weg zurück. Kurz vor dem Ausgang ging der unheimliche Mann direkt auf uns zu. Meine Tasche habe ich von meiner Tochter abgestaubt. Die besteht aus wasserdichter Lkw-Plane mit einem breiten verstellbaren Schultertrageriemen. Den hatte ich mir quer übergehängt. Das nennt man Crossbag, und genau so soll sie auch hängen bleiben, dachte ich intuitiv. Meine eine Hand umklammerte fest die Harke. In der anderen Hand hielt ich den Korb mit meinem Unkraut-Stecher. Ich merkte, wie auch meine Mutter spürte, dass etwas nicht stimmte, denn sie hörte plötzlich auf zu reden. Die Situation war unheimlich, aber ich wollte nicht als Opfer da stehen und richtete mich etwas auf, um Stärke zu signalisieren.

„Nah warte! Ich zeig dir, was ‘ne Harke ist“, sagte mein Blick, als der Mann mich mit seinem unheimlichen Blick ansah, „Wir sind vorbereitet. Ein Taschenfreak, wie ich, lässt sich seine Tasche nicht so einfach wegnehmen. Und wenn es sein muss, haut dir auch noch meine Mutter die Pflanzschaufel links und rechts um die Ohren, bis Dir Hören und Sehen vergeht.“ Was soll ich sagen? Bingo! Es hatte gewirkt. Der fremde Mann hatte meine telepathische Nachricht offenbar erhalten, denn er änderte seinen Blick und ging in letzter Sekunde an uns vorbei.

Erleichtert fuhren wir nach Hause und aßen zu Mittag. Bevor nachmittags Bares für Rares anfing – Sie wissen schon, diese Trödelshow mit Horst Lichter – machte ich meiner Mutter noch einen Kaffee, putzte ihre Brille und gab ihr Augentropfen. So konnte sie genussvoll ihre Lieblingssendung im Fernsehen anschauen und ich konnte mich getrost auf den Heimweg machen.

Dieses Mal wollte ich ihre weiße Bluse mitnehmen, um sie mit meiner weißen Feinwäsche mitzuwaschen und wieder tragbar zu machen. Aber meine Mutter fand das unnötig und meinte: „Die ist doch gar nicht so schmutzig. Irgendwann bin ich unter der Erde, und da ist es noch viel schmutziger.“ Daraufhin lachten wir beide laut. Auch dieses Thema kann man also ruhig mit Humor sehen.

Wenn sich hyperaktive Mütter in Kartoffelsäcke verwandeln

Es dürfte inzwischen wohl einwandfrei feststehen, dass meine Mutter ziemlich dement ist. Zum Glück reicht es bei ihr aber noch für ein paar wichtige Dinge des täglichen Lebens. Sie kann zum Beispiel etwas in ihren Kalender schreiben, weiß jedoch nicht, welchen Tag wir „heute“ haben. Sie kann den Fernseher betätigen, drückt aber immer wieder mal die falschen Knöpfe, wegen der zeitverzögerten Reaktion des Gerätes.

Abwarten war noch nie ihre Stärke. Sie kann telefonieren, vergisst jedoch, dass sie schon mehrmals angerufen hat. Ja das Anrufen ist ihre Hauptbeschäftigung und fällt ihr leicht. Nur beim Annehmen eines Anrufes gibt es neuerdings Probleme. Welches Telefonsymbol soll sie drücken, das rote oder das grüne? Leider entscheidet sie sich ab und zu für das rote, sprich sie drückt den Anruf weg.

Von alledem scheinen ihre Freundinnen bisher nichts bemerkt zu haben, zumal die Stimme meiner Mutter am Telefon immer sehr klar ist und sie einen selbstbewussten und vor allem selbstbestimmten Eindruck macht. Deshalb wurde sie jetzt auch wieder zu einem Kaffeekränzchen eingeladen, das an einem Freitag stattfinden sollte.

Montag vor dem Treffen freute sie sich noch über die Einladung. Am Dienstag hielt sich die Freude schon in Grenzen und schrumpfte dann von Tag zu Tag. Gleichzeitig breitete sich langsam aber sicher Unsicherheit aus, aber ich redete ihr gut zu. Schließlich sollen demente Menschen doch unter Leute kommen und ein Treffen mit „alten“ Freundinnen ist eine gute Abwechslung zum einsamen Alltagstrott. Trotzdem sagte sie mir am Donnerstag weinend, dass sie Angst hätte, aber ich konnte sie beruhigen.

Am Freitag fuhr ich schon frühzeitig zu ihr, um ihr die Haare zu schneiden und ihr zu helfen sich fertigzumachen. Immer wieder sagte ich ihr, dass alles gut sei und ich, wie gewünscht, auch ein Geschenk für die Gastgeberin besorgt hätte. Und dann fuhren wir endlich los.

Die Freundinnen meiner Mutter sind alle grundverschieden, so verschieden wie Menschen eben sein können. Es ist alles dabei von warmherzig bis frostig, von bescheiden bis großspurig, von nett bis unfreundlich, von herzlich bis hochnäsig. Die Freundin, die mit den jeweils ersten Adjektiven gesegnet ist, hatte eingeladen.

Als wir vor ihrer Tür standen, lächelte sie mir freundlich zu, nahm meine Mutter herzlich in Empfang und freut sich über das Blumengeschenk. Wir waren ihre ersten Gäste. Ich verabschiedete mich gleich wieder, damit ich noch etwas von der mir verbleibenden Regenerationszeit hatte.

Als ich drei Stunden später frisch gestärkt erneut klingelte, um meine Mutter abzuholen, kam die Freundin mit den jeweils zweiten Adjektiven an die Tür, weil sie die Mobilste von allen ist. Sie kommt noch völlig ohne Rollator aus. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles. Sie war ziemlich genervt. Aber das überraschte mich ebenso wenig, wie es mir etwas ausmachte.

Eine andere Freundin, die ebenfalls zu Gast war, fragte mich, ob ich sie mitnehmen und bei ihr zu Hause absetzen könne. Das tat ich selbstverständlich gern, aber mit dem Hinweis, dass sie hinten in meinem kleinen Zweitürer sitzen müsse. Sie versicherte mir, dass das kein Problem für sie sei.

Um Platz zu schaffen, bugsierte ich unsere Nordic-Walking-Stöcke vom hinteren Fußraum in den Kofferraum. Ich war also für einen kurzen Moment abgelenkt und schon hatte sich meine hyperaktive Mutter aus falsch verstandener Höflichkeit ihrer Freundin gegenüber auf den Rücksitz meines Autos gequetscht. Da war nichts mehr zu machen. Okay, wird schon schiefgehen, dachte ich, und schnallte sie an.

Die Freundin wollte mir Bescheid sagen, wenn wir bei ihrem Haus angekommen wären, genauso wie es einmal meine Mutter tun wollte, als ich sie dort hinfahren sollte. Soviel zur Theorie. Auch ich konnte in der sehr langen Allee mit den weit zurückliegenden Häusern in der regennassen Dunkelheit nichts erkennen und schon gar nicht irgendeine Hausnummer. Was das betrifft, habe ich schon viel erlebt und viele Leute darauf hingewiesen, dass ihre Hausnummer nicht zu erkennen oder gar nicht erst vorhanden wäre. Über die Antworten, die ich da bekam, muss ich immer noch den Kopf schütteln. Hier mal eine kleine Auswahl:
– Doch selbstverständlich haben wir eine Nummer am Haus, die ist nur zugerankt. (Haben die noch nie etwas von einer Gartenschere gehört?)
– Unsere Hausnummer ist neben der Eingangstür, wie sie sehen. (Ja super, aber die befindet sich seitlich am Haus, von der Straße aus ist sie also nicht sichtbar.)
– Wenn die Beleuchtung brennt, sehen sie auch unsere Hausnummer, aber wir sind sehr energiebewusst und lassen die Lampen lieber aus! (Sorry Leute, aber ich brauche keinen Pfadfinder-Crash-Kurs.)
– Eine Hausnummer ist längst nicht so wichtig wie ein Warnhinweis „Hier wache ich!“ Aber keine Sorge, wir haben gar keinen Hund. Das Schild ist nur als Einbrecher-Abschreckung gedacht und wir beißen nicht ha ha ha… (Ach, da bin ich ja beruhigt.)
– Wozu brauchen wir eine Hausnummer. Wir wissen doch, wo wir wohnen und der Briefträger auch. Und bis jetzt haben uns noch alle gefunden, die zu uns wollten. (Sorry Leute, aber ne Schnitzel-Jagd im Dunkeln musste ich jetzt nicht noch haben!)

Aber ich schweife ab. Wir waren bei der Heimfahrt vom Kaffeekränzchen. Die Freundin sagte schließlich stopp und ich bog ab in einen mit Steinen gesäumten Naturweg, der mir allerdings nicht bekannt vorkam. Aber was tut frau nicht alles, um einer Auseinandersetzung mit älteren Damen aus dem Weg zu gehen. Als ich mit ihr ausstieg, sah ich, dass es sich tatsächlich nicht um ihr Haus handelte und ich wollte sie schon wieder einsteigen lassen. Aber sie bestand darauf, die restlichen Meter bis zu ihrem Haus auf dem Fußweg weiter zu gehen. Es wäre nicht mehr weit, sagte sie noch, und schon war sie weg. Nennt man das Altersstarrsinn?

Also fuhr ich den schmalen Weg bei Regen im Dunkeln wieder zurück. Das war aber gar nicht so einfach, weil ein Bewohner des Hauses von hinten versuchte, sich an meinem Fahrzeug vorbei in seine Einfahrt zu quetschen. Als er endlich nicht mehr von hinten blendete, weil er es geschafft hatte, musste ich zweimal aussteigen, um mich zu vergewissern, dass ich beim Wenden nicht aus Versehen gegen einen der Begrenzungssteine fuhr. Ja, ich habe kein modernes mit Pieplauten ausgestattetes Auto. Und wenn es draußen dunkel ist, gehe ich lieber auf Nummer sicher. Allerdings ist das etwas nervig, wenn die Prozedur ununterbrochen von löchernden Fragen und Bekundungen untermalt wird. Und so hörte ich von der Rücksitzbank in Dauerschleife:
„Hatte ich überhaupt ein Geschenk? Habe ich mich eigentlich bedankt? Habe ich mich denn auch verabschiedet? Ich will nirgendwo mehr hin! Das nächste Mal sage ich einfach, dass ich keine Zeit habe!“

Meine Mutter hatte sich beim Kaffeekränzchen unwohl gefühlt, weil ihr doch irgendwie bewusst geworden war, dass sie bei der Unterhaltung nicht mehr mitkam.

Als wir zwei zu Hause angekommen waren, konnte meine Mutter mal wieder nicht abwarten und rutschte, bei dem Versuch alleine auszusteigen, von der Rückbank in den Fußraum. Und da saß sie nun fest und kam nicht mehr vor
und nicht mehr zurück. Ich versuchte von beiden Seiten sie herauszubekommen, aber es half kein Ziehen und kein Schieben. Der Vordersitz ließ sich auch nicht weiter nach vorne schieben.

Gerade als ich in Erwägung zog, die Feuerwehr anzurufen, kam ein Mieter meiner Mutter aus dem Haus. Mit vereinten Kräften und zweimaligem Positionswechsel gelang es uns beiden schließlich, meine Mutter vorsichtig aus dem Auto zu holen, ohne ihr die Knochen zu brechen. Einen Kartoffelsack hätte ich vermutlich leichter von der Rückbank ins Freie gehievt.

In ihrer Wohnung angekommen, ging meine Mutter ins Schlafzimmer und sagte mir, dass sie an ihrem Bett kein Licht mehr hätte; die Glühbirne wäre kaputt gewesen. Eine neue Glühbirne hatte ich schließlich gefunden. Glauben Sie mir, Schubladen gibt es genug, die solche Schätze vor der Außenwelt abschirmen. Nun musste ich also nur noch die Klemmleuchte selbst suchen. Die hatte meine Mutter nämlich schon entfernt. Irgendwann fand ich sie schließlich in einer Ecke des Schlafzimmers zwischen mehreren Taschen.  „Wer suchet, der findet“, heißt es ja schon in der Bibel.

Ich bin ein ordentlicher Mensch, vielleicht, weil ich zu faul zum Suchen bin, vielleicht ist es aber auch nur ein inneres Bedürfnis, einen echten Überblick zu haben und jederzeit zu wissen, wo ich was finden kann. Ich hasse es, wenn etwas nicht an seinem Platz ist. Aber wenn ich bei meiner Mutter bin, muss ich immer etwas suchen, weil sie es alleine gar nicht mehr findet. Ja, man könnte sogar sagen:

Das ganze Leben ist eine Schnitzeljagd! Man muss allerdings nicht jedem Schnipsel hinterher jagen. Manchmal ist es ganz gut, wenn Sachen von der Bildfläche verschwinden. Ich denke da z.B. an den Führerschein meiner Mutter. Aber das ist eine andere Geschichte.