Bierverkostung in vollen Zügen

Seit Tagen habe ich einseitige Kopfschmerzen, was sich verstärkt, wenn ich an den Kopf fasse oder mir die Haare bürste. Deshalb habe ich mir selber den Rat gegeben, nicht mehr dran zu fassen und mir nur noch im Notfall die Haare zu bürsten. Es stellt sich die Frage: Wie scheiße darf ich aussehen, damit es ein Notfall ist?

Außerdem schmerzt die Seite auch, wenn ich nachts draufliege, was mich vorübergehend wieder zum Kopfkissen greifen ließ. Wenn die Schmerzen nicht nachlassen, muss ich wohl dem Rat meiner Mutter folgen und den Arzt fragen, ob man „mit so was leben kann“. Er wird sagen, dass er es tun würde. Deshalb beschloss ich, die Schmerzen zu ignorieren und das Leben und besonders diesen Tag in vollen Zügen zu genießen. Da kam die geplante Brauerei-Besichtigung mit anschließend reichlicher Bierverkostung gestern Nachmittag wie gerufen. Mein Mann, meine Tochter, ihr Freund und ich hatten viel Spaß und ICH ziemlich schnell „einen sitzen“. Das kommt davon, wenn man sonst so gut wie nie Alkohol trinkt.

Nach der Veranstaltung gingen wir fröhlich lachend durch den lauschigen Abend an der Weser entlang. Bei unserer Tochter wartete dann noch eine reichhaltige Käseplatte mit Baguette auf uns. So ein Nachtisch kommt bei mir immer gut an. Mmh, das hatte gemundet und ich war schnell wieder nüchtern. Spät abends zu Hause tat mir der Kopf nun beidseitig weh, sogar ohne dass ich „dran fassen“ musste.

Heute im Laufe des Vormittags fühlte ich mich zwar noch nicht wirklich gut, aber wer feiern kann, muss auch arbeiten, sagte ich mir und bereitete mich seelisch und moralisch auf die Fahrt zum »Frauenbund für alkoholfreie Kultur« vor. Es ging mal wieder nach Grambke, und als vorbildliche Tochter, wollte ich meine Mutter natürlich hinfahren und begleiten. Beim Frauenbund-Treffen erwartete mich dann noch ein kleines Highlight, als ich hörte, wie eine Frau meine Mutter fragte: „Margret, bist du mit deiner Enkelin gekommen?“ Oh, das ging runter wir Öl!

Als alle Frauen ihre Plätze eingenommen hatten, begrüßte uns die erste Vorsitzende ganz herzlich zum ”Advent-Kaffeetrinken“ und sorgte damit für allgemeine Belustigung. Denn es handelte sich natürlich um das Erntedank-Kaffeetrinken, das bei sage und schreibe 25 Grad im Schatten stattfand. Sie war ihrer Zeit eben ein wenig voraus. Kein Wunder, wenn es schon Ende August Lebkuchen in den Regalen gibt. Da kann man sich schon mal vertun.

Während der anschließenden mühsamen Unterhaltung vermied ich es tunlichst, meinen feuchtfröhlichen Ausflug vom Vortag zu erwähnen. Ich bin zwar kein Mitglied dieses Vereins, und deshalb auch nicht zum Abstinentsein verpflichtet, hielt es aber trotzdem für keine gute Idee, dass die netten Damen von meinen Kater-Kopfschmerzen erfuhren. Am Ende hätten sie mich noch bekehren und als Neuzugang akquirieren wollen.

Beim Kaffeetrinken fragte meine Mutter immer und immer wieder das Gleiche, z.B. wer den kleinen Kürbis mit lila Hut aus Tonpapier gebastelt hätte, den jeder als Geschenk vor sich stehen hatte. Wir sagten ihr immer und immer wieder, dass es die Lilo im lila Shirt vom Nebentisch war – eine Frau, die ihren besonderen Hang zu der Farbe Lila nicht leugnen konnte.

Die anderen Frauen an unserem Tisch waren im Gegensatz zu meiner Mutter nicht dement, aber mehr oder weniger schwerhörig oder in andere Gespräche vertieft. Dadurch ging die ewige Fragerei nach dem besagten Kürbis zum Glück ein wenig unter bzw. ich konnte schnell antworten oder ablenken. Der hohe Geräuschpegel im Gemeindesaal tat sein Übriges.

Das gemeinsame Singen eines Herbstliedes und ein kleiner Vortrag ließen mich zwischendurch ein bisschen durchatmen. Und das Singen hat meiner Mutter besonders viel Freude bereitet.

Unterm Strich wurde ich mit der Flatrate-Fragerei vor und während der gemeinsamen Hinfahrt, ungefähr zwei Stunden im Saal und während und nach der gemeinsamen Rückfahrt beschallt. Ich sage nur so viel: Da kommt auch eine gute Schmerztablette an ihre Grenzen.

Auf meiner Heimfahrt genoss ich die Stille im Auto und spürte die Freude in mein eigenes Herz zurückkehren, die ich meiner Mutter vorher mit diesem Ausflug geben konnte.

Vom Gerstenkorn zum Plätt-Problem

Mein Gerstenkorn will sich einfach nicht so recht verabschieden. Das nennt man Anhänglichkeit. Da wurde mein Lippenherpes regelrecht eifersüchtig und meinte, er müsse sich auch mal wieder blicken lassen. Vielleicht hatte ich einfach zu viele andere Dinge um die Ohren, außer dem täglichen Wahnsinn einer Betreuerin.

Zu allem Überfluss meinte meine Mutter, sie müsse sich mal wieder auf ihren Frust über ihren finanziellen Kontrollverlust konzentrieren und fuhr telefonisch alles auf, was das Thema hergab, einschließlich der Androhung, zu ihrer Rechtsanwältin zu gehen. Der Anrufbeantworter glühte förmlich.

Aber sie beschäftigte mich zwischendurch auch noch anderweitig, in dem sie behauptete, dass ihr etwas nicht gehören würde. Diesmal war es das Bügeleisen einschließlich Bügelbrett, das ganz brav an der dafür vorgesehenen Stelle stand. Jemand hätte beides umgetauscht, behauptete sie. Im Vergleich zum üblichen Geld-Thema, empfand ich diese fixe Idee als reinste Entspannung und ich ließ mich auf ein Gespräch mit ihr ein. Nein, sie wolle nicht bügeln, sagte sie barsch, aber es gehe ums Prinzip. Sie wolle wissen, wer ihre Sachen gegen andere ausgetauscht hätte. Ich beruhigte sie, dass niemand an ihren alten „Plätt-Sachen“ interessiert wäre und dafür auch noch neue hinstellen würde.

Solche und ähnliche Diskussionen führe ich des Öfteren mit ihr. Neulich behauptete sie sogar, dass ihr jemand Tischdecken und Kristallvasen untergejubelt hätte, also Dinge, die ihr nicht gehören würden. Ich konterte, dass das für sie als Kristallvasen-Freak ja märchenhaft fantastische Zustände wären. Das überzeugte sie und sie freute sich für einen kurzen Moment über ihre schönen neuen Vasen.

Zum Glück übernimmt mein Anrufbeantworter in der Regel die meisten Beschwerdeanrufe dieser Art. Er ist es auch, der sich täglich den neuesten Stand der Such- und Auffindungsaktion der Krankenversicherungs-Karte per Dauerschleife „reinziehen“ muss. Neulich streckte er dann mal wieder die Flügel und verweigerte jede weitere „Nahrungs“-Aufnahme.

Ich atme dann immer durch, lösche die Anrufe und sage mir, dass ich alles im Griff habe, einschließlich der gültigen Version der Versicherungskarte meiner Mutter.

Sexuelle Revolution an der Feinkostecke

Als ich mittags mit Besorgungen für meine Mutter aus der Stadt zurückkam, ging ich gleich zum türkischen Feinkost-Laden, um das Essen für meine Mutter und mich abzuholen, dass ihr sonst gebracht wird.

Heute gab es unser Lieblingsgericht: gefüllte Auberginen mit Mett, Paprika, hausgemachtem Tomatenpüree und Reis in besonderer Geschmacksnote und Konsistenz. Der natürliche Geschmack der einzelnen Zutaten wurde sehr fein abgeschmeckt. Meine Mutter lobte das Gericht während wir aßen ununterbrochen und blieb auch später dieser Meinung. Gäbe es einen Michelin-Stern für mediterrane Mittagstisch-Gerichte, wären speziell diese gefüllten Auberginen die heißesten Anwärter.

Der Eckladen bietet täglich zwei köstliche Gerichte, die man aber auch direkt dort verzehren kann. Das Feinkostgeschäft ist also gleichzeitig ein kleines Restaurant. Im Innenbereich können die Gäste gemütlich in einem Wintergarten-Vorbau sitzen. Vor der Tür sind auf beiden Seiten der Hausecke ein paar Tische und Stühle aufgebaut, die bei schönem Wetter immer gerne genutzt werden.

Bevor ich den Laden betrat, sah ich draußen zwei Best Ager mit kurzen silbergrauen Haaren nebeneinander am Tisch im Sonnenschein sitzen. Die beiden Frauen strahlten, während die Sonnenstrahlen ihre Herzen erwärmten. Ein idyllisches Bild. Ihre beiden Cappuccino Tassen als Stillleben davor.

Die eine Frau hatte ihren Kopf an die Schulter der anderen geschmiegt. Es wirkte herzerwärmend. Das nennt man wahre Zuneigung, dachte ich gleich, während ich an der Verkaufstheke stand und auf das Essen wartete.

Als ich den Laden wieder verlassen wollte, küssten sich die beiden Frauen leidenschaftlich eng umschlungen und lang anhaltend. Offensichtlich kamen sie kaum zum Kaffeetrinken, so vertieft, wie sie waren. Es lief also alles auf kalten Kaffee und heiße Liebe hinaus.

Ups, dachte ich, das ist mal eine extraordinäre Kiste – echt außergewöhnlich. Der Ladenbesitzer, der gerade wieder an einem anderen Tisch bedient hatte, muss ähnliche Gedanken gehabt haben. Er wirkte plötzlich ganz blass; der Kulturschock war ihm anzusehen. Musste die sexuelle Revolution der lesbischen Best Ager ausgerechnet mittags vor seinem Laden beginnen? Ihm fehlten die Worte.

Entgleisungen unter Wäscheleinen

Die Eisenbahnanlage auf unserem Dachboden spricht Bände. Es fing alles mit einem Weihnachtsgeschenk für meinen ältesten Bruder an, der damals noch nicht einmal ZWEI Jahre war! Damit gespielt hat mein Vater – also mit der elektrischen Eisenbahn, nicht mit meinem Bruder.

Vorher konnte man noch gut auf unserem Dachboden Wäsche aufhängen. Das beschränkte sich schleichend auf nur noch zwei Leinen über dem schmalen Gang vor der Eisenbahn-Anlage, die ständig wuchs und weiterentwickelt wurde. Überall Gleisanlagen, beschrankte Bahnübergänge, Bäume, eine komplette Kleinstadt, natürlich mit Bahnhof, Laternen, Straßen, beleuchteten Häusern, einer Tankstelle und einem angrenzenden Güterbahnhof.

Das Ganze zeigte sich vor einem riesigen Gebirge aus Pappmaschee mit mehreren Tunneldurchfahrten. Personenzüge hatten Innenbeleuchtung; Güterzüge mit rauchenden Schornsteinen konnten von einer Anlage mit Schüttgut, wie winzigen Kohlen, auf Knopfdruck befüllt werden. Mein Vater hatte ein Schaltpult mit Knöpfen und Kippschaltern, von wo aus er alle Weichen stellen und auch alles andere steuern konnte.

Wenn er alle Züge gleichzeitig fahren ließ, gab es schon mal die eine oder andere Entgleisung. Aber das war kein Problem für ihn. Er hatte sich eine flache Rollliege gebaut, mit deren Hilfe er, auf dem Rücken liegend, unter der Anlage hindurchfahren, in der dafür eingerichteten mittigen Öffnung auftauchen und die Züge wieder aufstellen konnte. Das Teil war sehr praktisch, auch beim Strippen Ziehen und Löten unterhalb der Anlage.

Wir Kinder nutzten die Rollliege gerne, um bis zu der Öffnung zu fahren und dort mitten in der Kleinstadt aufzutauchen und stehend zu beobachten, wie die Züge überall um uns herumfuhren. Und wenn wir Lust hatten, spielten wir dort mit den kleinen Modell-Autos.

Die Krönung war, wenn mein Vater abends oder wenn Gäste da waren, bei voller Nachtbeleuchtung der Anlage, alle Züge fahren ließ. Dann konnten wir sie in der Dunkelheit von der Mitte aus beobachten – ich meine die Züge, nicht die Gäste – während tausend kleine Lichter funkelten. Die Geräusche und das Tuten der Züge habe ich heute noch im Ohr. Es war überwältigend.

Aber der Dachboden hatte auch noch andere Reize. Manchmal fuhren wir komplett unter der Anlage durch und tauchten erst hinter dem Gebirge wieder auf. Dort stand ein großer Überseekoffer mit alten Klamotten, mit denen wir uns verkleiden durften. Das Gebirge war unsere Umkleidekabine, Höhle und Versteck zugleich. Die Stauballergie war zu dem Zeitpunkt noch nicht erfunden.

Dass meine Mutter kaum noch Wäsche aufhängen konnte, störte sie weniger als die Tatsache, dass mein Vater eines Tages meinte, dringend aufrüsten zu müssen. Militärfahrzeuge wie Panzer wurden angeschafft und bemalt. Kein Mensch verstand ihn, aber wie heißt es so schön: Manchmal muss ein Mann eben haben, was ein Mann eben haben muss.

Meine Mutter war not amused. Es kam zu bilateralen Gesprächen und harten Verhandlungen mit ausbleibender gemeinsamer Lösung. Die diplomatischen Beziehungen zwischen meinen Eltern wurden kurzzeitig abgebrochen.

Das nennt man Ehekrach.

Aber die Panzer waren bereits angeschafft und zierten wenig später die Anlage. Angesichts der angespannten Lage konzentrierte sich meine Mutter beim Wäscheaufhängen nur noch auf die gespannten Wäscheleinen.

Das nennt man Toleranz, was nichts anderes bedeutet als Duldung.

Was sagte meine Mutter vor Kurzem so treffend – in solchen Momenten zeigt die Demenz ihre angenehm komische Seite: „Was ist noch Scheidung? Ach ja, das ist, wenn einer der Teilnehmer nicht mehr mitmacht.“

Meine Mutter hatte bis zum Tode meines Vaters mitgemacht. Was zählen schon ein paar winzige Modell-Panzer gegen die Liebe.

Zwetschgen mit Kirschlutscher-Aroma

Meine Mutter liebt Zwetschgen. Als sie noch ihren Schrebergarten hatte, verarbeitete sie die Früchte von drei Bäumen. Entsprechend viel Marmelade und Saft stand allen Familienmitgliedern zur Verfügung. Natürlich gab sie auch jedes Jahr mehrere Zwetschgenkuchen nach dem „Reinheitsgebot“: Hefeteig unter süßen Zwetschgen dicht an dicht.

Inzwischen kann sie nicht mehr backen und hat dazu auch keine Lust mehr. Aber so ein frischer Kuchen mit Zwetschgen steht nach wie vor hoch im Kurs. Deshalb überrasche ich sie bei meinen Besuchen gerne mit Zwetschgenkuchen, solange es die Früchte gibt. Während wir Kaffee tranken und im Fernsehen die Trödel-Show lief, wollten wir die beiden Stücke genießen, aber es wollte nicht so recht. Die aktuelle Variante war seeehr süß: Pudding unter Zwetschgen auf Keks-Boden mit Tortenguss-Topping in der Sorte Kirschlolly. Aber ich dachte, immer noch besser als die Variante von letzter Woche: saure Pflaumen auf bitterem Boden für Mülleimer.

Nach solchen Enttäuschungen frage ich mich jedes Mal, warum ich überhaupt noch Kuchen kaufe? Aber immer, wenn ich kurz davor bin, die Illusion völlig zu verlieren, gerate ich per Zufall an ein Genuss-Stück!

Aber freuen kann ich mich dann trotzdem nicht, denn meine Mutter isst es nur zur Hälfte auf, um den Rest aufzubewahren und im Kühlschrank alt werden zu lassen. Ihre falsche Bescheidenheit sorgt als letzte Instanz dafür, dass es dann doch kein gelungener Moment wird.

Und wenn ich beim nächsten Mal genau den gleichen Kuchen mitbringe, kann es mir passieren, dass sie ihn dieses Mal GAR NICHT mag und  ebenfalls angegessen in den Kühlschrank stellt. Die Lagerbereinigung bleibt natürlich an mir hängen. Dann heißt es Endstation Mülleimer.

Meine Gesamtsituation, nicht nur Kuchen betreffend, könnte man folgendermaßen auf den Punkt bringen:
Verzweifelte Einkäuferin in verwirrender Marktlage mit erheblichen Qualitätsunterschieden trifft auf schwierige Verbraucherin mit häufig wiederkehrender Konsumverweigerung.

Waschmonopol mit Klumpgarantie

Meine Mutter hat mit ihren 87 Jahren immer noch das Waschmonopol im Haus. Sie mag es nicht, wenn jemand für sie wäscht, egal ob ich mich anbiete oder ihre Reinigungskraft. Die Sorge, dass wir zu viel Waschpulver nehmen, ist einfach zu groß.

Dabei kann man nun wirklich nicht behaupten, das es ihr an Waschmittel mangelt, sie hortet es geradezu, damit sie in schlechten Zeiten wenigstens waschen kann. In ihrem Keller stehen eine Menge überdimensional großer Jumbo-Pakete mit herkömmlichem Pulver – die fließ-fähig grobkörnige, nicht klumpende Waschmittelvariante war wohl nie im Sonderangebot. Nach meinen Berechnungen werden mit diesem Vorrat noch Generationen waschen können. Dem jetzt schon steinhart gewordenen Inhalt der Packungen können sie eines Tages allerdings nur noch mit Hammer und Meißel beikommen. Berücksichtigen sollten sie dann allerdings, dass sich ein, auf diese Weise gewonnener Waschmittelstein, höchstwahrscheinlich nicht bereits im ersten Waschgang auflösen wird. So etwas nennt man verzögerte Freisetzung – spülen zwecklos!

Viel Spaß beim Waschen!

Du kriegst die Motten

Meine Mutter ist ein bodenständiger Mensch, man kann sagen, sie ist immer auf dem Teppich geblieben – und das wird sich wohl auch nicht ändern.

Als ich sie gestern besuchte, fand ich sie auf einem Teppich sitzend, eingeschlafen vor. Sie hatte sich eine ihrer kleineren Perser-Brücken auf einen Sesselstuhl ihres Balkons gelegt. Dabei hätte sie es sich so bequem machen können mit einer der neuen, dick gepolsterten Auflagen, die in der Box neben den Stühlen aufbewahrt werden. Aber die kleine Brücke war mit nur einem Griff einsatzbereit.

Als sie aufwachte, wollte sie für mich dann auch gleich ein solches Exemplar auf einen Stuhl legen. Es befinden sich nämlich neuerdings mehrere Läufer aufgerollt auf ihrem Balkon. Sie stammen allesamt aus ihrem „eisernen“ Teppich-Vorrat, der sich in ihrem Schlafzimmer befindet. Leider fanden die Motten REINE Schurwolle, die nicht regelmäßig gesaugt wird – und wenn, dann nur von einem Staubsauger, der seinen Namen nicht verdient – zum Anbeißen, zumindest für ihre Brut.

Nachdem meine Mutter die Motteninvasion entdeckt hatte, brachte sie die sichtbar befallenen Läufer auf den Balkon in die Sonne. Ich weiß nicht, ob das die richtige Maßnahme ist, denn die Motten sind seitdem noch schneller am Ort ihrer Begierde, denke ich. Und sie haben es sehr gemütlich, solange die Brücken eingerollt bleiben. Außerdem ist der Balkon für diese ”possierlichen Tierchen“ sicherer als das Schlafzimmer, das ich inzwischen mit Mottenfallen und Mottenvernichter ausgestattet habe.

Ich glaube nicht, dass ich den Perser-Brückenvorrat retten kann. Aber wozu auch? Wer fliegt schon heute noch auf solche Teppiche? Höchstens Motten! Dann kann ich nur sagen: Guten Appetit!

Dudelsäcke mit faltenlosen Schottenröcken?

Kennen Sie das Volkslied »Drei weiße Birken in meiner Heimat steh’n«? Senioren singen es häufig. Meine Mutter hat nun eine neue Strophe hinzugefügt, die derzeit mehr oder weniger per Dauerschleife zu hören ist: „Drei weiße Hosen in meinem Treppenhaus …“

Wie die Hosen auf die Treppenstufen gelangen? Ganz einfach, meine Mutter legt sie immer wieder dorthin, weil sie glaubt, dass es nicht ihre Hosen sind, sondern die der Mieter; sie kann sich einfach nicht erinnern, die Teile je getragen zu haben. Da hilft es auch nicht, wenn ich ihr sage, dass sie den großen Fleck auf dem Oberschenkel vor Kurzem selbst drauf gekleckert hat und dass es die Konfektionsgröße 42 bei Herrenoberbekleidung gar nicht gibt. Sie bleibt dabei, die Hosen können nur einem Mieter gehören.

Nun sah ich, dass es sich bei der einen Hose um einen engen, kurzen, weißen Jeans-Rock handelt. Ich stellte mir unwillkürlich die Herren aus dem ersten Stock in diesem Rock vor und musste lachen. Dann fiel mir ein, dass meine Eltern vor vielen Jahren Mieter aus Großbritannien hatten. Selbst wenn die Schotten gewesen waren, hatten sie niemals Röcke getragen, da bin ich mir ganz sicher. Außerdem habe ich noch nie etwas von weißen faltenlosen Schottenröcken mit femininer Silhouette gehört. Das steht dem Dudelsack nicht, weder drunter noch drüber.

Ich erinnere mich noch genau an die beiden englisch sprechenden Männer in unserem Haus. Einer von ihnen wohnte im Souterrain-Zimmer. So einsam, wie er war in der Fremde, erinnerte er sich bald an sein Hobby. Es war der Whisky, dem er sehr zugetan war und dem er sich drei Tage lang ununterbrochen intensiv hingab.

Sein Kollege, der nette Mister Stanedge, der im ersten Stock wohnte, half ihm wieder auf die Beine und anschließend zurück ins Vereinigte Königreich. Im Flieger konnten die beiden nicht viel Gepäck mitnehmen und ließen einiges für den Müll zurück. Die kleine Glas Cafetiere, die in meiner Vitrine wieder aufpoliert steht, ist mir als Erinnerungsstück geblieben.

Essen auf Mecker-Basis

Meine Mutter hat sich heute Vormittag wieder telefonisch darüber beschwert, dass sie täglich Essen geliefert bekommt. (Natürlich erst, nachdem sie es sofort aufgegessen hatte.) Sie müsste damit rechnen, dick zu werden, wenn sie das jeden Tag essen würde.

Ich persönlich steh nicht so auf Märchen, aber das kommt mir irgendwie bekannt vor: „Määäh, ich bin so satt, ich mag kein Blatt!“ Unsere täglichen, telefonischen Diskussionen betreffend könnte ich meine Mutter folgendermaßen beschreiben:

Widerspenstigkeit in der Basisnote, Unberechenbarkeit  in der Kopfnote und Zuneigung in der Herznote gefolgt von Unsicherheit im Abgang mit Anklängen von Lob!

Dass man von einem normal portionierten Mittagessen, das vorwiegend aus Gemüse besteht, dick wird, den Zahn konnte ich ihr ziehen. Leider wächst er ständig wieder nach. Also sage ich ihr in einer Art Dauerschleife, dass doch geregelte Zeiten beim Essen wichtig sind, weil man sonst den ganzen Tag vor lauter Hunger oft nur ungesunde Sachen in sich hineinstopft – und die machen dann tatsächlich dick. Dieses Argument scheint sie dann jedes Mal zu fressen, sprich einzusehen – aber leider nur für gefühlte 30 Sekunden.

Ich habe das Gefühl, ich kann mir die Zähne ausbeißen an dieser ganzen unsäglichen Diskussion über die ambulante Versorgung meiner Mutter.

Wie ich weiß, mag sie gerne mal Bratwurst essen. Gestern beschwerte sie sich allerdings darüber, dass es Bratwurst gab, weil sie sich die auch selbst zubereiten könne. Theoretisch sicher, aber praktisch funktioniert das schon lange nicht mehr, weil sie bereits beim Einkauf ihr Vorhaben wieder vergessen hat oder die gekaufte Bratwurst im Kühlschrank vergisst. Wenn sie dann mal Appetit darauf hat, kann sie nicht wie im Märchen einfach sagen, „Esel streck dich“, und schon ist die gewünschte Wurst da. Ach nein, der machte ja Goldstücke. Wie auch immer. Mit dem Lieferservice ist es trotzdem märchenhaft. Täglich kommt das Essen, sogar ohne dass man sagen muss: „Tischlein deck dich“

Und täglich quakt das Murmeltier

Unsere Mutter bekommt nun also täglich Mittagessen geliefert. Teils vom Feinkost-Laden an der Ecke, teils von „Essen auf Rädern“. Sie ist  87 Jahre alt und sie sah ein, dass jemand der unbedingt über hundert Jahre alt werden will, regelmäßig zu Mittag essen sollte.

Seitdem kann man sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier – bei mir telefonisch – per Flatrate. Ihr Feedback über das Essen reicht von totaler Begeisterung bis zu völliger Ablehnung. In stark variierendem Tonfall vermeldet sie dann abwechselnd folgendes:

– Solch eine Essenslieferung wäre ja wunderbar! (Essen kochen war nämlich noch nie ihr Ding.) Aber sie käme sich so faul vor, wenn sie nicht selbst kochen würde. Es würde wirklich gut schmecken.

– Es wäre Essen geliefert worden, was sie damit solle. Das bisschen könne sie sich auch selber kochen. Das wäre viel zu wenig und es wären keine Kartoffeln dabei. Außerdem würde es überhaupt nicht schmecken. Wer hätte das eigentlich bestellt? Wer es bestellt, müsse es auch zahlen.

– Die hätten wieder Essen gebracht. Die Portion wäre viel zu groß. Sie würde womöglich noch dick davon werden. Sie würde das Menü auf keinen Fall essen! Zwei Stunden später ein erneuter Anruf: Warum sie heute kein Essen bekommen hätte, sie hätte solch einen Hunger. Am nächsten Tag, nach der nächsten Lieferung, wunderte sie sich darüber, dass zwei Mittagsmenüs auf dem Tisch standen, ein kaltes und ein heißes.

Aber heute schoss sie den Vogel ab: Ihre kindliche Selbstüberschätzung ging einmal wieder mit ihr durch und daraufhin ein Lachkrampf mit mir:
„Ja, ich wollte Essen auf Rädern haben“, räumte sie ein, „aber doch jetzt noch nicht. Dafür bin ich noch zu jung!“