Geisterbahngefühle im Elternhaus

Als mein Mann und ich nach Hause kamen, blinkte der Anrufbeantworter, wie immer. Aha, dachte ich sofort, wahrscheinlich hat meine Mutter mal wieder eine neue Anfrage-Serie nach ihrer Sparkassenkarte gestartet. Aber es war meine Schwester, die sich Sorgen machte, weil unsere Mutter telefonisch einfach nicht erreichbar war und auch die Tür nicht geöffnet hatte für die angekündigte Lebensmittellieferung vom Supermarkt um die Ecke.

Mir wurde ganz anders und ich rief meine Schwester zurück. Wir beschlossen, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde, um nach unserer Mutter zu schauen. Mein Mann bot gleich an, mich hinzufahren, was ich gerne annahm. Ich schnappte mir meine Betreuungstasche und wir fuhren los. Unterwegs ging mir alles Mögliche durch den Kopf: Vielleicht funktioniert nur ihr Telefon nicht. Aber die Klingel wird nicht gleichzeitig kaputt sein. Liegt meine Mutter vielleicht auf dem Fußboden? Hoffentlich hat sie sich dann nichts gebrochen. Gut, dass sie so viele Teppiche hat. Wie lange könnte sie da womöglich schon liegen? Mittagessen hatte sie höchstwahrscheinlich noch bekommen, sonst hätten die vom Feinkostladen angerufen. Habe ich die Telefonnummer vom Hausarzt? Ja! Und wie hieß noch das Beerdigungsinstitut, das meinen Vater unter die Erde gebracht hatte? Ich spürte Tränen in mir aufsteigen, konnte mich aber schnell wieder fangen. Nur die Ruhe, sagte ich mir, du musst jetzt einen klaren Kopf behalten, denn genau da drin ist die wichtigste Telefonnummer gespeichert, die 112.

Wir rasten über die Autobahn. Zum Glück war kein Stau. In der Stadt kam man wegen des beginnenden Berufsverkehrs und der vielen Ampeln nur langsam voran. Die Fahrt kam mir endlos vor. Meine Unruhe wuchs unaufhörlich, bis wir endlich da waren.

Während mein Mann einen Parkplatz suchte, lief ich sofort zur Haustür. Vor Aufregung konnte ich im Halbdunkel zunächst den Haustürschlüssel nicht finden. Es sind so viele Schlüssel am Schlüsselbund. Als ich endlich im Haus war, ging ich wie in Trance durch das Treppenhaus. Meine Hände zitterten, als ich an der Wohnungstür stand. Jetzt hatte ich zwar den richtigen Schlüssel zur Hand, aber Schwierigkeiten ihn ins Schlüsselloch zu bekommen. Mein Mann war noch draußen. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Langsam öffnete ich die Tür und hörte plötzlich laute Geräusche.

Als ich das dunkle Wohnzimmer betrat, herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum, der in einer Geisterbahn stattfindet. Die einzige Lichtquelle war der große neue Fernseher, der an beiden Seiten von blauen Lämpchen gesäumt ist. Vom Bildschirm flimmerte mir die bunte und laute Reizüberflutung entgegen. Dann sah ich meine reglose Mutter im Fernsehsessel. Ihr Körper war in sich zusammengesunken, der Kopf nach vorne gefallen. Mich überkam ein beklemmendes Gefühl. Plötzlich ein Schrei. Ich zuckte zusammen. Der Filmthriller Psycho war in meinem Kopf wieder präsent. Ich hatte das Gefühl, mein Herz bleibt stehen. Plötzlich bewegte sich meine Mutter und rief laut: „Hast du mich erschreckt.“

Ich schnappte nach Luft und brachte mit trockener Kehle nur ein Wort heraus: „Mama“. Dann ging ich zu ihr und nahm sie in die Arme. Ein Gefühl der Erleichterung und Freude überkam mich. Dann schaltete ich erst einmal das Licht ein und rief meine Schwester an, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung wäre. Meine Mutter bekam schnell mit, dass wir uns Sorgen um sie gemacht hatten.

„Was macht ihr euch eigentlich immer für Gedanken,“ meinte sie keck. “Ihr müsstet doch wissen, dass ich immer am ersten Mittwochnachmittag im Monat beim Frauenbund drüben bin. Dann fügte sie noch tadelnd hinzu: „Das könnt ihr euch mal hinter die Ohren schreiben.“ Gott sei Dank, dachte ich, ihr scheint es gut zu gehen, sie meckert sogar. Man könnte  auch sagen: Zuerst „das kleine Fernsehnickerchen“,  dann „die große Klappe“.

Sonst weiß sie grundsätzlich nie, welchen Tag wir gerade haben. Aber dieses Mal hatte sie recht, es war Mittwoch, und zwar nicht nur der erste im Monat, sondern sogar der Erste im Jahr. Am Tag zuvor war Neujahr und deshalb hatte ich die Wochentage irgendwie nicht auf dem Schirm. Meine Mutter natürlich auch nicht, aber sie wurde von der netten Vorsitzenden des Frauenbundes für alkoholfreie Kultur abgeholt und wieder zurückgebracht, wie ich später erfuhr.

Silvester, also vor zwei Tagen, fragte mich meine Mutter noch: „Welchen Tag haben wir heute.“ Als ich ihr sagte, dass Silvester vor der Tür stünde, war ihr einziges Problem, dass sie keinen Sekt zum Anstoßen im Haus hatte. So viel also zur alkoholfreien Kultur! In diesem Punkt hatte es meine Mutter noch nie so genau genommen und immer mit echtem Sekt angestoßen – Vereinsmitglied hin oder her. Das will sie sich auch jetzt nicht nehmen lassen, obwohl ich ihr sage, dass sich Alkohol nicht mit ihren Medikamenten verträgt. Aber ihr Motto war schon immer: Ein Glas Sekt, Bier oder Wein hat noch niemandem geschadet.

Der Ansicht war sie offenbar schon, als sie mit den beiden Töchtern meiner Schwester vor vielen Jahren einen Mallorcaurlaub gebucht hatte. (Damals war sie keineswegs dement!) Sie bestellte den beiden Mädchen doch glatt einen ganz normalen Cocktail und dachte sich nichts dabei. Omas haben am Ballermann eben nichts zu suchen, schon gar nicht mit süßen Mädels.

Aber ich schweife ab. Meine Mutter saß nun also quietschfidel da und fragte, weshalb ihr eigentlich Lebensmittel geliefert werden sollten. Das könne sie sich doch alles selber einholen. Wie ihre jüngste Tochter überhaupt dazu käme, ihr von Bayern aus Lebensmittel zu bestellen. Die solle sich nicht immer dazwischen stecken. Am Tag zuvor hatte sie noch abends ganz kleinlaut bei meiner Schwester angerufen, um ihr zu sagen, dass sie kaum noch etwas zu essen im Hause hätte. Aber davon wusste sie natürlich nichts mehr. Durch ihre Demenz lebt sie nur im Hier und Jetzt und in der weit zurückliegenden Vergangenheit. Da müssen wir wohl oder übel irgendwie durch.

Eines habe ich an diesem Spätnachmittag aber gelernt: Wenn meine Mutter weder ans Telefon geht noch ihre Lebensmittel annimmt – keine Panik, es könnte am Frauenbund liegen.

Schauen wir mal, was uns die nächsten Monate noch für Überraschungen mit unserer Mutter bringen. Mein Bedarf an Thrill ist jedenfalls gedeckt. Wird es vielleicht noch Fortsetzungen geben? Nah dann: Prost Neujahr!

Vom Gerstenkorn zum Plätt-Problem

Mein Gerstenkorn will sich einfach nicht so recht verabschieden. Das nennt man Anhänglichkeit. Da wurde mein Lippenherpes regelrecht eifersüchtig und meinte, er müsse sich auch mal wieder blicken lassen. Vielleicht hatte ich einfach zu viele andere Dinge um die Ohren, außer dem täglichen Wahnsinn einer Betreuerin.

Zu allem Überfluss meinte meine Mutter, sie müsse sich mal wieder auf ihren Frust über ihren finanziellen Kontrollverlust konzentrieren und fuhr telefonisch alles auf, was das Thema hergab, einschließlich der Androhung, zu ihrer Rechtsanwältin zu gehen. Der Anrufbeantworter glühte förmlich.

Aber sie beschäftigte mich zwischendurch auch noch anderweitig, in dem sie behauptete, dass ihr etwas nicht gehören würde. Diesmal war es das Bügeleisen einschließlich Bügelbrett, das ganz brav an der dafür vorgesehenen Stelle stand. Jemand hätte beides umgetauscht, behauptete sie. Im Vergleich zum üblichen Geld-Thema, empfand ich diese fixe Idee als reinste Entspannung und ich ließ mich auf ein Gespräch mit ihr ein. Nein, sie wolle nicht bügeln, sagte sie barsch, aber es gehe ums Prinzip. Sie wolle wissen, wer ihre Sachen gegen andere ausgetauscht hätte. Ich beruhigte sie, dass niemand an ihren alten „Plätt-Sachen“ interessiert wäre und dafür auch noch neue hinstellen würde.

Solche und ähnliche Diskussionen führe ich des Öfteren mit ihr. Neulich behauptete sie sogar, dass ihr jemand Tischdecken und Kristallvasen untergejubelt hätte, also Dinge, die ihr nicht gehören würden. Ich konterte, dass das für sie als Kristallvasen-Freak ja märchenhaft fantastische Zustände wären. Das überzeugte sie und sie freute sich für einen kurzen Moment über ihre schönen neuen Vasen.

Zum Glück übernimmt mein Anrufbeantworter in der Regel die meisten Beschwerdeanrufe dieser Art. Er ist es auch, der sich täglich den neuesten Stand der Such- und Auffindungsaktion der Krankenversicherungs-Karte per Dauerschleife „reinziehen“ muss. Neulich streckte er dann mal wieder die Flügel und verweigerte jede weitere „Nahrungs“-Aufnahme.

Ich atme dann immer durch, lösche die Anrufe und sage mir, dass ich alles im Griff habe, einschließlich der gültigen Version der Versicherungskarte meiner Mutter.

Ein Deal für gute Laune

Ich liebe eine Sendung im Fernsehen, obwohl ich sie noch nie gesehen habe. Ich sehe auch sonst so gut wie nichts im Fernsehen, um mir nicht die gute Laune verderben zu lassen, wenn sie gerade mal kurz vorbeischaut. Aber warum liebe ich ausgerechnet diese Sendung?

Meine 86-jährige relativ demente und beratungsresistente Mutter, die ich aus bestimmten Gründen in Finanz-Angelegenheiten betreuen muss, ruft mich täglich sechs- bis zweiundzwanzigmal an und verlangt nach Bargeld, obwohl sie sämtliche Einkäufe bargeldlos tätigen kann.

Ich habe mit meiner Laune einen Deal getroffen. Wir lassen meine Mutter den ganzen Tag mit dem Anrufbeantworter ins Leere laufen. Gegen Abend hört mein Mann den Anrufbeantworter ab und gibt mir eine kurze Zusammenfassung des Aufgesprochenen oder spielt mir auch mal die eine oder andere Passage vor. Danach rufe ich zurück, es sei denn, ich hatte sie an dem Tag schon besucht.

Es ist mir ein Bedürfnis, täglich mit ihr zu sprechen, auch wenn ich jedes Mal ein ungutes Gefühl habe. Schon, wenn ich nur die Telefontaste drücke, frage ich mich immer, wird sie mich gleich wieder beschimpfen? So auch gestern.

Als ich anrief, traute ich meinen Ohren nicht. Ich hörte sie voller Begeisterung und freudestrahlend sagen: „Es gibt gerade Bares für Rares, diesmal aus einem richtigen Schloss, ganz toll! Was wolltest du?“

Bingo! Gepriesen sei diese Sendung. Mögen die Verantwortlichen sie in den nächsten vierzehn Jahren nicht absetzen. Meine Mutter möchte nämlich hundert Jahre alt werden, und OHNE diese Sendung wäre das schlecht auszuhalten, jedenfalls für ihre Kinder.

Was für die Kleinen der Kinderkanal, ist für meine Mutter offenbar diese Trödel-Verkaufs-Sendung. Ein Flohmarkt auf höchstem Niveau mit Experten und Gutachtern. Kinderkanal und Seniorenkanal, die reinsten Nervenretter! Ein Glücksfall für alle Betreuenden. Ich frage mich, wie die Leute es früher nur ohne Fernsehen ausgehalten haben, sogar wenn sie selbst gar nicht fernsehen wollten?

Ich hatte in der Programm-Zeitung gelesen, dass die Sendung in einem Industriegebiets-Gebäude aufgezeichnet wird. Dann wurde es ja höchste Zeit, dass sie jetzt den richtigen Rahmen bekommt. In einem Schloss gibt es bestimmt auch edle Teppiche, denke ich so bei mir.

Für meine Mutter sind Teppiche das, was Teekannen für mich sind. Aber Teekannen können zum Glück keine Mottenlöcher bekommen, wird mir erleichtert klar, als ich einen ihrer Teppiche betrachte. Dafür kann man Teppiche ohne Probleme fallen lassen, könnte meine Mutter erwidern. Aber warum sollte man die fallen lassen, die liegen doch schon – und das ÜBERALL.

Wenn meine Mutter früher ein freies Stück Teppichboden sah, wurde sie nervös und sie hielt umgehend nach einer geeigneten Brücke Ausschau. Weil die Größe nicht genau hinkam (eben anders als bei einem Puzzle), überlappten sich manche Teppiche – und daran hat sich leider nichts geändert. Es gibt nach wie vor richtige Stolperfallen. Jeder, der den Klassiker Dinner for one kennt, weiß, wovon ich spreche.

Hätte meine Mutter einen Butler, würde der sagen: „Kann ich den Tigerkopf noch mal sehen?“ Stimmt, da wüsste er wenigstens eindeutig, an welcher Stelle er stolpern kann.

Mit den Stühlen bleibt man ständig irgendwo hängen. Zum Glück saugt der alte Staubsauger so (zuverlässig) schlecht, dass er sich nicht irgendwo festsaugen und die einzelnen Teppiche hochreißen kann. Mit einem Profigerät müsste man ansonsten höchste Saugkünste an den Tag legen, um nicht zu verzweifeln.

Wenn ich sage, dass überall Teppiche sind, ist das noch untertrieben. Sogar vor der Wohnzimmertür meiner Mutter hängt von innen ein Wand-Teppich. In der Küche liegen ebenfalls Teppiche, ein Teppichläufer sogar direkt vor der Küchenzeile. Eine sehr hygienische Lösung, denn das dunkle, ehemals gestreifte Teil nimmt alles ganz in sich auf. Man sieht den Schmutz quasi nicht mehr und muss nichts wegwischen. Wie praktisch!

Aber das ist noch nicht alles. Zu allem Überfluss sind die Polstermöbel mit dunkelbraunen zottigen Lammfellen bedeckt. Die ganze Wohnung ist ein wahres Paradies für Reinigungskräfte, die minimal-invasiv vorgehen. Man kann garantiert nach dem Putzen keinen Unterschied zu vorher sehen.

Sollten Sie jemanden kennen, der auf dieser Basis reinigen möchte, oder würden Sie das gerne selber übernehmen, melden Sie sich doch bei mir. Für Hausstaub-Allergiker ist dieser Job allerdings weniger geeignet. Es sei denn, sie werfen regelmäßig vor dem Betreten der Wohnung ein Antiallergikum ein. Interessiert?