Vom Gerstenkorn zum Plätt-Problem

Mein Gerstenkorn will sich einfach nicht so recht verabschieden. Das nennt man Anhänglichkeit. Da wurde mein Lippenherpes regelrecht eifersüchtig und meinte, er müsse sich auch mal wieder blicken lassen. Vielleicht hatte ich einfach zu viele andere Dinge um die Ohren, außer dem täglichen Wahnsinn einer Betreuerin.

Zu allem Überfluss meinte meine Mutter, sie müsse sich mal wieder auf ihren Frust über ihren finanziellen Kontrollverlust konzentrieren und fuhr telefonisch alles auf, was das Thema hergab, einschließlich der Androhung, zu ihrer Rechtsanwältin zu gehen. Der Anrufbeantworter glühte förmlich.

Aber sie beschäftigte mich zwischendurch auch noch anderweitig, in dem sie behauptete, dass ihr etwas nicht gehören würde. Diesmal war es das Bügeleisen einschließlich Bügelbrett, das ganz brav an der dafür vorgesehenen Stelle stand. Jemand hätte beides umgetauscht, behauptete sie. Im Vergleich zum üblichen Geld-Thema, empfand ich diese fixe Idee als reinste Entspannung und ich ließ mich auf ein Gespräch mit ihr ein. Nein, sie wolle nicht bügeln, sagte sie barsch, aber es gehe ums Prinzip. Sie wolle wissen, wer ihre Sachen gegen andere ausgetauscht hätte. Ich beruhigte sie, dass niemand an ihren alten „Plätt-Sachen“ interessiert wäre und dafür auch noch neue hinstellen würde.

Solche und ähnliche Diskussionen führe ich des Öfteren mit ihr. Neulich behauptete sie sogar, dass ihr jemand Tischdecken und Kristallvasen untergejubelt hätte, also Dinge, die ihr nicht gehören würden. Ich konterte, dass das für sie als Kristallvasen-Freak ja märchenhaft fantastische Zustände wären. Das überzeugte sie und sie freute sich für einen kurzen Moment über ihre schönen neuen Vasen.

Zum Glück übernimmt mein Anrufbeantworter in der Regel die meisten Beschwerdeanrufe dieser Art. Er ist es auch, der sich täglich den neuesten Stand der Such- und Auffindungsaktion der Krankenversicherungs-Karte per Dauerschleife „reinziehen“ muss. Neulich streckte er dann mal wieder die Flügel und verweigerte jede weitere „Nahrungs“-Aufnahme.

Ich atme dann immer durch, lösche die Anrufe und sage mir, dass ich alles im Griff habe, einschließlich der gültigen Version der Versicherungskarte meiner Mutter.

Beratung auf chronischer Basis

Meine 86-jährige Mutter ist die geborene Beraterin. Da sich ihre Demenz bisher ausschließlich auf ihr Kurzzeitgedächtnis fokussiert hat, widmet sie diesem Hobby weiterhin viel Zeit.

Wäre sie heute jung, würde sie höchstwahrscheinlich beruflich in einer Beratungsstelle sitzen. Sie berät für ihr Leben gern. Das ist ihre Berufung. Schon als Kind hat sie ihre kompetente Mutter und ihre Geschwister beraten, später dann ihre vier Kinder.

Ihre Hauptgebiete sind heute Ernährung, Gesundheit und Lebensführung. Ihr Rat ist nicht nur kostenlos, er fällt einem sozusagen in den Schoß. Ungefragt wird einem ihre ausführliche Beratung zu Teil. Sie selbst kommt allerdings völlig ohne Beratung aus. Will man heutzutage ein unbelastetes Gespräch mit ihr führen, sollte man sie sicherheitshalber bereits ab dem ersten Satz um Rat fragen. Sie denkt grundsätzlich sehr vorausschauend, umsichtig und praktisch für andere, mit Betonung auf ANDERE. Sie sieht sofort die Defizite anderer, die ihrer Meinung nach unbedingt behoben werden müssen. Auf deren Wünsche und Bedürfnisse kann dabei keine Rücksicht genommen werden, wenn ihrer Meinung nach Handlungsbedarf besteht.

Einflussnahme könnte ihr zweiter Vorname sein. Familie, Nachbarn und Freunde kommen reichlich in den Genuss ihrer Ratschläge. Sie rät ihren Freunden, in eine Altersresidenz zu ziehen. Das empfiehlt sie auch ihrem neun Jahre jüngeren Bruder, der noch geistig beieinander ist. Für sie selbst steht dergleichen nicht zur Disposition.

Meine Mutter weist auch gerne darauf hin, dass insbesondere ältere Menschen ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen sollten; was sie natürlich eines Tages auch bei sich selbst beherzigen will. Wie heißt es in dem alten Spruch: Schusters Kinder haben die schlechtesten Schuhe. Aber er weiß, wie es geht! Es gibt ja auch Berater für Essstörungen, die selbst adipös oder magersüchtig sind und oder einen daran erkrankten Angehörigen haben. Man weiß, wovon man spricht. Aber man lässt auch sich selbst beraten. Selbst Psychotherapeuten nutzen ab und zu einen Kollegen als Supervisor.

Nicht so meine Mutter. Sie ist durch keinerlei Selbstzweifel getrübt. Sie ist total von sich überzeugt, und davon, dass sie anderen helfen MUSS. Sie sagt gern, wo es langgeht. Ihr Helfer-Syndrom lebt sie seit Jahren an ihrem drogenkranken Enkel aus, statt es den für ihn zuständigen Profis zu überlassen. Er war der Einzige, der sich noch ausführlich von ihr beraten ließ – diese Beratung wurde schließlich sehr gut bezahlt, als sie noch über ihr Vermögen verfügen durfte.

Kaum jemand kennt sich besser in sparsamer Lebensführung aus als meine Mutter. Das ist einfach unübertroffen. Sie kauft für sich selbst grundsätzlich nur sehr preisgünstig ein, um nicht zu sagen billig. Aber ihre Großzügigkeit ist grenzenlos, wenn es um diesen einen Enkel geht. Täglich wurde von ihr der Geldautomat bei der Sparkasse mindestens einmal betätigt, bis ihr Konto weit überzogen war. So etwas nennt man pleite. Zum Glück hatte sie ihre Sparkonten vergessen (manchmal hat eine Demenz auch etwas Positives) und mir wurde rechtzeitig die Vermögenssorge übertragen. Sie will nichts von ihrer internen „Drogenfinanzierung mit kleinen Scheinen“ wissen und redet sich um Kopf und Kragen. Das nennt man Co-Abhängigkeit.

Was soll ich sagen. Meine Mutter ist eine notorische Beraterin mit chronischer Beratungsresistenz, kombiniert mit Demenz und on Top als Sahnehäubchen eine fette Co-Abhängigkeit – der reinste Albtraum für jeden Betreuer!