Ziemlich schlechteste Freundinnen

In der Nachbarschaft meiner Mutter wohnte, solange ich denken kann, eine eingebildete, kinderlose Frau im gleichen Alter; sie war unerträglich, bildungsfern und zudem hinterhältig. In meiner Mutter hatte sie ein perfektes Opfer gefunden, nämlich einen Menschen, der anderen zwar gerne sagt, was diese tun oder lassen sollen, aber ansonsten harmlos ist. Meine Mutter ist nun einmal kein schlagfertiger Typ, sondern gerade heraus und entschuldigt sich am Ende noch, wenn sich jemand unverschämt oder beleidigend ihr gegenüber verhalten hat. Es kann vorkommen, dass sie die Person sogar noch vor anderen verteidigt. Das muss man nicht verstehen, ist aber so.

Je mehr sie sich gefallen ließ, desto schlimmer wurde sie von der Nachbarin behandelt. Leider war meine Mutter der Ansicht, dass sie jemanden in der Nachbarschaft bräuchte, und sah deshalb über deren Charakter hinweg. Man kann sagen, die beiden waren ziemlich schlechteste Freundinnen. Die Frau, nennen wir sie Elfriede, war Mitglied im »Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kultur« und so wurde auch meine Mutter dort Mitglied.

Dieser Verein veranstaltet regelmäßig gemütliche Treffen und Ausflüge. Als meine Mutter noch nicht lange dabei war, wurde zu einem sogenannten Kohl-und Pinkel-Essen eingeladen. In Norddeutschland ist das ein traditionelles Winter-Essen mit braun-gekochtem Grünkohl und fettiger Grützwurst (Pinkel), zu dem normalerweise Schnaps für die bessere Verteilung des Fettes ausgeschenkt und dieser auch fleißig runtergekippt wird.

So saßen die Frauen also in fröhlicher Runde und unterhielten sich angeregt. Meine Mutter dachte wohl nicht weiter darüber nach, in welcher Gesellschaft sie sich befand, jedenfalls bestellte sie ein kleines Alster, was Elfriede neben ihr sehr wohl mitbekam, aber nicht kommentierte.

Nachdem die Bedienung das kleine Bierglas direkt vor meiner Mutter abgestellt hatte, herrschte augenblicklich Totenstille im Saal. Alle Frauen starrten abwechselnd meine Mutter und das Bierglas an. Man hätte das Fallen eines Korkens in der Gaststätte hören können.

Während die erste Vorsitzende des Vereins meiner Mutter vor allen Anwesenden ganz ruhig erklärte, was alkoholfreie Kultur bedeutet, konnte sich Elfriede das Grinsen nicht verkneifen. Schadenfreude ist eben auch eine Freude. Schuldbewusst und peinlich berührt nahm meine Mutter das volle Bierglas und brachte es zur Theke zurück. Der Bedienung sagte sie: „Die haben gesagt, ich darf das nicht“, und ließ sich ein Mineralwasser bringen.

Seit diesem Vorfall bestellte sie nie mehr Alkohol, jedenfalls nicht in ihrer Frauenbund-Runde. Dafür ließen sich Elfriede und sie nach wie vor jedes Jahr von einem ambulanten Weinhändler mehrere Kartons mit Weinflaschen in ihre Keller liefern, ganz ohne schlechtes Gewissen. Warum auch, man muss doch etwas zum Verschenken im Haus haben. Erfahren sollte das aber niemand. Auch darüber, dass im Kühlschrank kleine »Kuemmerlinge« vor sich hin kümmerten und immer wieder durch neue ersetzt wurden, herrschte einvernehmliches Stillschweigen der beiden Alkoholfreikulturellen.

Wenigstens in dem Punkt funktionierte ihre Freundschaft.