Von Zahnkillern und halbnackten Osterhasen

Bei meinem letzten Besuch hörte ich meine demente Mutter singen: „Fass‘ an Hals und zupf‘ am Bauch, fass‘ an Hals und zupf‘ am Bauch.“

Ups, dachte ich irritiert, wo soll ich zupfen? Ich fragte sie, ob ich die Pinzette holen soll. Aber sie war in ihren Gesang vertieft. „Grabbel hier mal hin, grabbel da mal hin, grabbel auch mal in die Mitte“, trällerte sie weiter. Was? Soll ich ihr vielleicht den Rücken bürsten, fragte ich mich? Meine Mutter sah meine Ratlosigkeit. „Das ist ein Lied über Instrumente“, sagte sie lachend, während die Sonne, die gerade mal wieder durch das Fenster hereinschaute, eine Zahnlücke an ihrem Oberkiefer gut sichtbar machte.

So erfuhr ich also, dass man das Cello am Hals anfassen und am Bauch zupfen und beim Klavier mal hierhin und mal dahin grabbeln soll. Dieses gewöhnungsbedürftige Lied hat übrigens noch weitere Strophen, wie ich hören konnte. „Die Geige, sie singet, sie jubelt und klinget, Die Klarinett’, die Klarinett’ macht dua dua dua gar so nett,.“ Ich freute mich darüber, meine Mutter mal wieder fröhlich singend zu erleben. Sie kannte noch alle Strophen des Liedes, in dem weitere Instrumente vorkamen. Einfach wunderbar, die Demenz war wie weggeblasen. Und ich wusste nun Bescheid, die Trompete, sie schmettert, das Horn ruht sich aus – und der Zahn ist raus …

Wie letzteres passiert war, wusste meine Mutter nicht mehr. Ich fragte mich, womit sie sich wohl den Zahn ausgebissen haben mag. War etwa der Osterhase daran Schuld? Vor den Feiertagen hatte sie sich nämlich einen großen Schokoladen-Osterhasen gekauft und auf ihre Wohnzimmer-Anrichte gestellt – ein hübscher Blickfang. Als ich ihn zwischendurch sah, musste ich zweimal hinschauen. Er stand immer noch an seinem Platz, war aber irgendwie nicht mehr wirklich dekorativ. Untenherum war der Goldhase nicht mehr golden, sondern schokoladenbraun. Alles abwärts der Gürtellinie, äh der roten Glöckchen-Halskrause war entblößt. Und beim genauen Hinsehen musste ich feststellen, dass er kein Hinterteil mehr hatte. Es war aber exakt nur soviel abgebissen, dass er noch sitzen konnte. Das nennt man Maßarbeit. Meine Mutter schämte sich, dass sie nicht widerstehen konnte und einfach hineingebissen hatte.

Aha, das war also der Übeltäter, dachte ich; aber wo war der abgebrochene Zahn? Hoffentlich ist er nicht aus Versehen im Staubsauger oder im Müll gelandet. Ich ließ meinen Blick schweifen und fand ihn schließlich. Er lag auf einer Packung Schogetten. Das muss man meiner Mutter lassen, sie hatte den Zahn dem Verursacher zugeordnet. Ihr fiel dann auch wieder ein, dass sie sich an diesen dicken harten Zartbitter-Schokoladenstücken den Zahn ausgebissen hatte. Damit war meine Ermittlungsarbeit abgeschlossen und das Thema erst einmal gegessen, genau wie der unschuldige Hase. Seine unwiderstehliche Anziehungskraft hatte ihn dahingerafft, wie zuvor die Goldfolie. Er ward nicht mehr gesehen. Ja, so kann es gehen, wenn die Versuchung in Gestalt eines Goldhasen daherkommt. 

Die Zahnlücke könne man vielleicht nicht mehr sehen, wenn sie sich einen Bart wachsen ließe, überlegte meine Mutter laut, aber dann würde sie aussehen wie ein Affe, befürchtete sie. Das wollte sie dann doch nicht. Auch ich hielt eine Gebiss-Reparatur für sinnvoller und verwahrte den abgebrochenen Zahn an einem sicheren Ort. Ich fixierte ihn mit Tesafilm seitlich am Arzneischränkchen, damit ich ihn nicht ein zweites Mal suchen musste.

Meine Mutter liebt Liedertexte, Gedichte, Zitate und Sprüche. Damit bestreitet sie inzwischen einen Großteil ihrer Konversation. Eine Ihrer Devisen ist »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«. Eine andere lautet »Kann nicht liegt auf dem Friedhof, will nicht daneben«. Und meine Mutter will! Außerdem ist sie fest davon überzeugt, dass sie alles alleine kann. Das ist eine sehr anstrengende Kombination. Sie glaubt voll den Durchblick zu haben und trennt sogar den Müll. Nennen wir es abstrakte Mülltrennung. Am Tag vor der Müllabfuhr ziehe ich mir dann regelmäßig Einmal-Handschuhe über und sortiere um, bis alles in den vorschriftsmäßigen Gefäßen liegt. Aber zurück zum eigentlichen Thema.

Nun mussten wir uns erst einmal auf die Suche nach dem Zweit-Gebiss machen, damit ich das angeschlagene Teil zum Zahnarzt bringen konnte. Das Archivieren von Dingen gehörte noch nie zu den Stärken meiner Mutter. Ich musste den ganzen Kleiderschrank umkrempeln bis ich endlich die dritten, vierten oder fünften Zähne fand. Zum Glück fing ich mit dem richtigen Schrank an, sonst hätte die Aktion bestimmt noch zwei Stunden länger gedauert. Was ich noch alles zum Vorschein beförderte, ist eine andere Geschichte.

Das Gebiss, dass ich nun in den Händen hielt, bekam sie vor fünf Jahren und ist das jüngste von allen. Damals hatte sie es aber abgelehnt und lieber weiterhin das Vorgängermodell getragen, weil es angeblich besser saß. An diesem Tag war sie aber froh über die Ersatz-Beißerchen aus ihrem Schrank, denn sie wollte nicht ohne Zähne im Mund dastehen, während ihr Lieblings-Gebiss repariert wird. So tauschte sie ihre obere Kauleiste bereitwillig aus. Auf diese Weise kam wenigstens das Oberteil des neuen Gebisses endlich einmal zum Einsatz, wenn auch nur für einen Tag.

Nun lag aber noch das Unterteil des neueren Gebisses vor meiner Mutter auf dem Esstisch. Und das ließ ihr keine Ruhe. Ununterbrochen probierte sie im Wechsel das neue und das alte Unterteil hin und her. Das eine Unterteil passte nicht zu dem frisch eingesetzten Oberteil und das andere Unterteil passte nicht mehr auf ihren Unterkiefer. Bevor wir beide völlig durcheinander kamen, ließ ich das Teil, dass nicht zum Unterkiefer passte, also das neueste Gebissunterteil verschwinden

Vom Suchen und Aufräumen habe ich inzwischen wirklich genug, da mein Mann und ich gerade unseren Dachboden entrümpelt haben. Ich erzählte meiner Mutter, dass wir zwei riesige alte Korbflaschen, die zur Weinherstellung dienen, gefunden hätten. Sofort war sie Feuer und Flamme und meinte, dass wir die doch an einen Weinhändler verkaufen könnten. „Du bräuchtest nur mal sagen, dass du die besitzt. Aber nicht verraten, dass du sie loswerden willst“, riet sie mir fast schon verschwörerisch. Als erfahrene Flohmarkt-Besucherin wusste sie noch, wie man Desinteresse vortäuscht. „Du musst ganz cool sein. Das musst du noch lernen.“

Ja, dachte ich, und wir alle sollten lernen uns nicht die Zähne auszubeißen. Der eine beißt sie sich an den enormen Problemen dieser Welt aus, der andere an enormen Schokoladenstücken. Die Probleme dieser Welt kann ich nicht lösen, aber ich kann meiner Mutter die passende Schokolade kaufen, damit nicht bald der nächste Zahn abbricht. Nun hat sie dünne Täfelchen. Sicher ist sicher.

Nur der Zahn der Zeit bricht niemals ab – auch mit Schogetten ist nichts zu machen. Er nagt weiter und lässt sich nicht aufhalten. Deshalb freut Euch des Lebens, Leute, solange es geht – und singt und lacht, auch wenn es mal durch die Zahnlücke pfeift!

Seebestattung für ein neues Gebiss

Ich sehe am entfernten Strand zwei Surfer. Warum ist der Anblick nur so ungewohnt? Jetzt weiß ich warum. Sie stehen auf großen „altmodischen“ Surfbrettern und halten sich große „altmodische“ Segel vor den Körper. Ich frage mich, kann man das heute schon als Vintage bezeichnen? Sonst sieht man hier nämlich ausschließlich Kitesurfer.

Einer der beiden Vintage-Sportler fällt bei jedem Wendemanöver mitsamt seinem Segel ins seichte Wasser. Aber er kann immer wieder gut aufsteigen, so flach wie es dort ist. Ideal für Anfänger. Hier gibt es für jeden die passende Freizeitbeschäftigung.

Ein Segelboot schaukelt auf dem Meer wie ein Schaukelpferd. Am Jachthafen sieht man auch Wohnmobile. Viele bleiben dort stehen, weil sie nicht wissen, dass man bei uns vorbeifahren darf. Nach sechshundert Metern kommt ein großer Wendeplatz mit schöner Aussicht und dem Knallert-Verbotsschild. Erst hier ist die Sackgasse zu Ende. Andere wissen aber von diesem Geheimtipp; täglich fährt das eine oder andere Auto an unserem höher liegenden Haus vorbei, auch Wohnmobile oder Motorräder. Letztere sind in Dänemark viel leiser als bei uns. Die Dänen mögen wohl keinen Knallert-Krach. Also, geht doch!

Während der Fahrt schauen alle immer starr nach rechts auf unser Haus und auf mich. Soldaten bei einer Parade könnten ihren Blick nicht besser seitlich gerichtet halten. Ich möchte ihnen dann immer zurufen: „Halloho, auf der anderen Seite ist das Meer!“ Sie fahren weiter. Aber dann wird die Straße immer enger, zum Teil ragen dann auch noch hohe Büsche rechts und links in die Fahrbahn; und siehe da, viele Urlauber trauen sich nicht weiterzufahren und kommen rückwärts wieder bei uns vorbei. In diesem Fall sind sie in Gedanken wieder bei ihrem geliebten Wohnmobil und schauen eisern in ihre Rückspiegel.

Einmal fuhren immer wieder Autos vorbei, dann sogar ein Bus. Eigenartig: alltags vormittags, keine Freizeitkleidung. Nach einiger Zeit kamen sie alle im Konvoi wieder zurück. Was wollten die da? Mein Mann hatte eine Erklärung: Sie waren bei einer Seebestattung!

Da erinnere ich mich an den inzwischen verstorbenen Lebensabschnittsgefährten meiner Mutter, der sich bei einer stürmischen Seebestattung (inklusive Catering) übergeben musste. Sein neues Gebiss war dabei ebenfalls über Bord und für immer von ihm gegangen.

Auf der Rückfahrt war er dann sehr schweigsam, ich denke nicht nur aus Pietät und Takt.