Meine Mutter sagt immer, was sie denkt, auch wenn sie gar nicht gefragt wird. Würden das alle Menschen tun, wäre ein friedliches Zusammenleben auf der Welt wohl kaum möglich. Bei meiner Mutter geht diese Art der Ehrlichkeit aber auch noch mit Wechselhaftigkeit einher, was größtenteils ihrer Demenz geschuldet ist. Wenn sie ihre Kleidung so oft wechseln würde, wie ihre Meinungen und Absichten, wäre sie die gepflegteste Erscheinung auf Erden.
Sie sagt, sie wäre eben so, wie sie ist. Der liebe Gott würde nur Einzelstücke anfertigen. Bei ihr kommt nun also das kleine eigensinnige Einzelstück ihrer Kindheit wieder voll zum Vorschein. Auch das Duschen und Haare waschen umschifft sie so gut sie kann. Neuerdings will sie ausschließlich ihren rotbunten Jacquard-Woll-Pullover in Kombination mit ihrer braun-karierten Hose tragen, sogar zur Frauenbund-Adventsfeier. Aber das konnte ich gerade noch verhindern.
Obwohl ich zugeben muss, wenn ich die neuste Mode betrachte, ist so etwas Schräges total angesagt. Kaum zu glauben, aber karierte und bunte Muster sind voll im Trend, sogar in wilden Kombinationen. Meine Mutter hat keine Ahnung von Mode, aber sie weiß, wie praktisch Buntes ist; man sieht nämlich nicht gleich jeden Fleck. Trotzdem würde ich ihren Wollpullover gerne mitnehmen und nach Pflegeanleitung waschen. Zum einen, damit er nicht so winzig wird wie sein Vorgänger (es lebe die Kochwäsche) und zum anderen, weil der Pullover vor ihrer Brust, wo sich alles weit nach vorne wölbt, inzwischen merklich dunkler geworden ist. Außerdem hat er am Ellenbogen ein sich ausbreitendes Loch, das dringend gestopft werden muss.
Man könnte jetzt dagegen halten, dass teure Designer-Jeans ja auch Löcher hätten und Designer-Schuhe an den Spitzen absichtlich schmuddelig dunkler gemacht würden. Das ist zutreffend und man nennt diesen Trend Used-Look. Ich glaube jedoch nicht, dass irgendjemand den Pullover meiner Mutter als Designer-Stück durchgehen ließe – schon gar nicht ihre Senioren-Freundinnen. Die würden sofort sehen, was wirklich los ist. Meiner Mutter scheint das egal zu sein, mir aber nicht. Denn letztlich fällt doch alles auf mich, als Betreuerin, zurück. Deshalb habe ich ihr heimlich zwei neue rot-bunte Jacquard-Pullover bestellt, die ich ihr zum Geburtstag „unterjubeln“ werde. Offiziell geht diesbezüglich gar nichts, das ist ja das Problem. Andere Mütter würden sich freuen, wenn ihre Töchter ihnen schicke, bequeme Sachen kaufen würden.
Sie sehen schon, meine Mutter ist ein Einzelstück, das einen fertigmachen kann. Einerseits will sie so sein, wie sie eben ist, andererseits will sie ihre vornehmen Freundinnen zu ihrem bevorstehenden Geburtstag einladen. Eigentlich hat sie Angst davor, weil ihr bewusst geworden ist, dass sie nicht mehr an der Unterhaltung teilnehmen kann und, dass ihr das alles zu viel wird.
Im letzten Jahr sollte ich mich noch um alles kümmern. Freie Hand ließ sie mir dabei allerdings nicht gerade. Es hätte auch nicht viel genützt, denn die freie Hand kann nun mal nicht zaubern und schon gar nicht aus dem bockigen Kind eine gepflegte Gastgeberin machen. Deshalb wird auch in diesem Jahr nicht gefeiert und sie ist erleichtert.
Aber für die passive Teilnahme an einer Adventsfeier war meine Mutter bereit. Mit Engelszungen redete ich auf sie ein. Schließlich gelang es mir, sie nicht nur zur weißen Bluse, Strickjacke und schwarzer Hose zu überreden, sondern sie auch in selbige hineinzuquetschen. Dann hängte sie sich ihr Handy um, dass sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Das steckt in einer Art Strumpf mit einer langen Kordel dran.
Seitdem sie ein Handy besitzt, ist sie daran gewöhnt es sich umzuhängen, sobald sie das Haus verlässt. So fühlt sie sich sicherer. Die Tatsache, dass es nicht funktioniert, weil weder Akku noch Guthaben aufgeladen sind, ist ihr nicht bewusst und das ist auch nicht notwendig. Denn was würde ihr ein einsatzbereites Handy nützen, das sie definitiv nicht mehr bedienen kann?
Sie ist grundsätzlich davon überzeugt, dass sie noch alles kann, aber nicht ausschließlich. Es wechselt. Und ich versuche weitestgehend meiner Mutter die Illusionen zu erhalten und sie so leben zu lassen, wie sie es gewohnt ist. Das entspricht zwar nicht den Standards, aber auf diese Weise lebt sie so, wie sie es möchte in ihrem kleinen Demenz-Mikrokosmos mit Löchern im Pullover, die sie sich allerdings nicht vom Einsatz in unserer Ellenbogengesellschaft geholt hat – nein, die sind einfach nur vom Zahn der Zeit hineingearbeitet worden.