Als mein Vater vor dem Krieg zum ersten Mal Jazzmusik hörte, hatte es ihn sofort mitgerissen. Benny Goodman und Glenn Miller hatten ihn sozusagen von den Socken gehauen. Wenn überhaupt, konnte man solche Musik nur in bestimmten Clubs hören, denn sie war bei den Nazis verboten. Mein Vater und sein Freund ließen sich davon nicht beeindrucken und holten sich die Musik nach Hause, indem sie sich ausgelassen an Jazz Sessions versuchten. Beide hatten den Rhythmus im Blut und waren ausgezeichnete Klavierspieler.
Ein anderer Freund meines Vaters wurde zum Militär eingezogen und vertraute ihm seine Klarinette an. Er wollte, dass das gute Stück wenigstens ab und zu bespielt wird. Das musste er meinem Vater nicht zweimal sagen. Musikalisch, wie er war, brachte er sich das Klarinettespielen selber bei, so wie vorher schon das Gitarrespielen. Irgendwie schaffte er es, jedes Instrument, das ihm in die Finger kam, zum Klingen zu bringen. Auch wenn er nicht so wie Benny Goodman spielen konnte, entlockte er der Klarinette doch einen klasse Sound. Seine Mutter war über die musikalische Weiterentwicklung ihres einzigen Kindes gar nicht glücklich. Als ausgebildete Pianistin hatte sie eine völlig andere Vorstellung von ”guter“ Musik. Sie brauchte sich jedoch nicht sehr lange aufzuregen, denn der Zweite Weltkrieg sollte bald auch für meinen Vater alles verändern.
Nach dem Krieg war Jazz-Musik nicht mehr verboten, sie kam sogar mit der amerikanischen Besatzungsmacht ganz offiziell direkt ins Land und nicht nur still und heimlich per Noten oder Schallplatten. Die jungen Menschen waren lebenshungrig, wollten Spaß haben und die Erlebnisse auf dem Schlachtfeld vergessen. So auch mein Vater und sein Freund. Sie fingen wieder an Musik zu machen und stürzten sich förmlich auf den Jazz, also auf das, was auch die amerikanischen GIs am liebsten hören. In den Kasinos wurde nur live gespielt und wer gut war, durfte sich bei den Besatzern etwas dazu verdienen.
So taten sich die beiden Freunde mit einigen anderen jungen Jazz-Versessenen zusammen. Allerdings konnte keiner von ihnen Schlagzeug spielen. Der Einzige, der sich daran wagte, war mein Vater, und er merkte schnell, dass ihm dieses Instrument besonders lag. Er hatte den Rhythmus im Blut. Vielleicht lag das daran, dass er schon als ungeborenes Baby stundenlang täglich am Klavier zugebracht und im Takt mit vibriert hatte. Um das Instrument noch besser zu beherrschen, bekam er noch ein wenig Nachhilfe von einem älteren Herrn namens Last. Es war der Vater eines Bandmitgliedes.
Die neu gegründete Band spielte bald Jazz mit Leidenschaft im Gefühl aber Hunger im Bauch. Deshalb war die Arbeit bei den „Amis“ im Kasino das reinste Vergnügen für sie. Sie hatten Spaß und bekamen obendrein auch noch etwas zu essen. Das war damals unbezahlbar. Einer von den jungen Männern hörte zu der Zeit noch auf den Vornamen Hans und sollte später als Orchester-Chef weltberühmt werden.
Eines Tages wurde bekannt, dass Louis Armstrong ein Konzert in der Stadt geben würde. Karten zu bekommen war für Normalsterbliche unmöglich. Aber mein Vater wollte den charismatischen Trompeter unbedingt live erleben. Deshalb musste er sich dringend etwas einfallen lassen. Und wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg.
Das Fotografieren war ebenfalls ein Hobby meines Vaters und er hatte für damalige Verhältnisse eine ziemlich gute Kamera. Also zog er sich seinen Humphrey-Bogart-Anzug an, lockerte die Krawatte ein wenig, hängte sich seine Kamera um den Hals und schob seinen Hut frech schief nach hinten. Und genau so ging er direkt vor dem Konzert lässig an der wartenden Menschenschlange vorbei, zeigte statt Eintrittskarte blitzschnell irgendeinen Ausweis und sagte selbstbewusst „Presse“ während er hineinging. Er konnte sein Glück kaum fassen, denn er hatte es tatsächlich geschafft. Er war drin! Heute wäre so etwas undenkbar.
Über zwanzig Jahre später kamen nacheinander Mister Acker Bilk und Chris Barber mit ihren Bands in die Stadt. Für einen richtigen Jazz-Fan war natürlich klar, dass er dort hin musste. Und dafür konnte man ganz normal Karten erwerben. Mein Vater kaufte jedes Mal gleich zwei Karten für die erste Reihe. Eine davon war für niemand anderen, als für mich. Ich war erst vierzehn Jahre alt. Aber mein Vater wusste damals schon, dass ich die Einzige in der Familie war und bin, die Jazz genauso liebte wie er.
Auch das Tanzen war eine Leidenschaft meines Vaters. Er hatte vor dem Krieg mehrere Tanz-Turniere hintereinander gewonnen. Wenn er mal richtig groß ausgehen wollte, ging er in Gala gekleidet und mit weißem Schal um den Hals zu Fuß zum Bahnhof, nahm sich dort ein Taxi und ließ sich ungefähr fünfhundert Meter direkt vor das Grand-Hotel fahren. Das nennt man einen großen Auftritt mit kleinen Fahrtkosten. In dem Hotel gab es damals Tanzveranstaltungen und rauschende Bälle. Wer besonders lässig sein wollte, brach den Fuß eines Sektglases ab, steckte es sich in die äußere Brusttasche seines Jacketts und streifte die Asche seiner langen Zigarette daran ab. Jedenfalls erzählte mir das mein Vater, sagte aber auch gleich, dass das nicht sein Stil gewesen wäre.
Von Eleganz verstand mein Vater etwas. Er hatte das, was man heute immer noch einen guten Geschmack nennt. Eines Tages nahm er mich mit in die Stadt und kaufte mir für meinen Abtanzball eine Abendtasche mit passendem Satinportemonnaie. Edles Material trifft auf zeitlose Eleganz. Über eine neue Abendtasche musste ich mir bis heute keine Gedanken machen. Was er aussuchte, war immer perfekt. Auch meine Mutter wurde von ihm beraten, denn Fräulein Margrets Gespür für elegante Mode fehlte gänzlich.
Den Ausdruck Shoppen kannte man damals noch nicht in Deutschland, aber man kann trotzdem sagen, mein Vater verstand etwas davon. Nach dem sich meine Eltern kennengelernt hatten, ließ sich meine Mutter mithilfe seines Geschmacks und ihres gesparten Geldes von Kopf bis Fuß neu einkleiden.
Meine Eltern lernten sich beim Wochenend-Bootfahren mit Freunden kennen. Da saß mein Vater also plötzlich mit einer zehn Jahre jüngeren natürlichen Schönheit in einem Boot. Die goldenen Locken hatte sie sich zurückgesteckt und sah aus wie Ingrid Bergmann. Sie war so niedlich unkompliziert mit ihrem sonnigen Gemüt und ihrem selbst genähten Bikini. Zuerst sah mein Vater sie mit der Linse seines Fotoapparates, dann mit den Augen der Liebe.
Im Sommerurlaub fuhren die beiden zusammen mit Freunden in ein Nordsee-Bad. Dort fanden Tanzveranstaltungen und eine Miss-Wahl statt. Meine Mutter wurde im Badeanzug zur Schönheitskönigin gewählt. Ihr Vater tobte, als er später zu Hause davon erfuhr. Es schickte sich einfach nicht, so leicht bekleidet in der Öffentlichkeit ”aufzutreten“ – auch nicht, wenn man bereits verlobt war.
Als mein ältester Bruder unterwegs war, wurde geheiratet. Das Elternhaus meines Vaters war durch den Krieg zwar voll besetzt mit einquartierten Menschen, die sonst kein Dach über den Kopf gehabt hätten, aber zum Glück konnten seine Eltern ihm durch einen Trick ein kleines Zimmer freihalten, bis er aus dem Krieg zurückkam.
So fingen meine Eltern ihre Ehe in einem Zimmer mit Waschbecken, einer Schlafcouch und einem Kinderbett an. Meine Mutter gab das Baby früh morgens bei ihrer Schwiegermutter unten ab, bevor sie zur Arbeit fuhr – fünfzehn Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad. Als nach und nach Zimmer im Haus frei wurden, bekamen meine Eltern endlich ihre eigene Wohnung im Dachgeschoss des Hauses mit kleiner Küche, Kohleofen und eigenem Klo. Der absolute Luxus für damalige Verhältnisse.
Der Traum von einem Ski-Urlaub nahm langsam gestalt an, war allerdings bald ausgeträumt, als mein zweiter Bruder sich ankündigte. Unter die bereits angeschafften Leder-Skistiefel konnte sich mein Vater dann immerhin Schlittschuhe schnallen, denn die Winter waren kalt.
Das Wort Familienplanung gab es noch nicht, aber als ich mich in noch kürzerem Abstand auch noch ankündigte, fingen meine Eltern intensiv an, sich dahin gehend schlauzumachen. Eine gewisse Beate Uhse klärte in Broschüren über Empfängnisverhütung auf. Es bedurfte also einer mutigen Frau, um sich endlich genau über alle Möglichkeiten informieren zu können.
Eine alte Freundin meiner Mutter, die inzwischen in Hamburg verheiratet war, staunte nicht schlecht, als sie meine Mutter nach langer Zeit zufällig Kinderwagen schiebend wieder sah. Ein Kind lag drin, eines saß obendrauf und eines ging nebenher. Das Ganze, einschließlich Einkauf, musste von meiner Mutter täglich über drei Treppen nach oben geschleppt werden. Mein Vater verdiente die Kohle, und im Winter schleppte er die auch noch hoch, wenn er abends nach Hause kam.
Sechs Jahre später, als sich die Lage für meine Mutter etwas entspannt hatte, bekamen wir noch ein kleines Püppchen mit goldenen Locken hinzu, die Klügste von uns allen. Ab dann war unser VW-Bus endgültig voll, wenn wir unterwegs waren, zum Beispiel zum Camping-Urlaub an der Ostsee.
Ich weiß nicht wie meine Eltern das alles geschafft haben. Viel Zeit zum Nachdenken hatten sie nicht. Aber eins steht fest, sie haben ihr Bestes gegeben.