Was Angela Merkel und meine Mutter gemeinsam haben

Bei meinem letzten Besuch hatte ich meiner Mutter ihre vier Hosen zurückgebracht, die ich für sie frisch gewaschenen hatte. Die beiden neueren Exemplare sind eine Konfektionsgröße größer, weil die alten Hosen einfach zu eng geworden waren. Meine Mutter hatte zugenommen, so viel stand fest. Man kann sich kaum noch vorstellen, dass sie nach ihrem Krankenhaus- und Reha-Aufenthalt vor fünf Jahren nur noch Größe 38 hatte und jetzt wieder 46 trägt. Im Speiseraum der Reha-Klinik hatte sie sich als renitenter Suppenkasper in gewisser Weise einen Namen gemacht. Das Essen schmeckte ihr dort nie und sie dachte nur an das eine: „Ich will hier raus!“

Im Laufe der Zeit ist sie um mindestens drei Konfektionsgrößen gewachsen – natürlich nur in die Breite. Ansonsten ist sie eher geschrumpft. Deshalb hatte ich die neue Hose nach der Wäsche kürzen müssen, und das, obwohl ich extra eine Kurzgröße gekauft hatte!

Nun sollte meine Mutter also eine frische Hose anziehen. Zuerst zog sie die älteste an, die sie kaum schließen konnte und die trotz Komfortbund mit Gummizug sehr eng in der Taille sitzt. Dann zog sie die Hose wieder aus und probierte die neuere an. Aber die war ihrer Meinung nach wiederum viel zu groß, obwohl sie am Bauch genau richtig saß. Ich konnte sie auch nicht umstimmen. „Die Hosenbeine sind viel zu weit“, stellte sie fest. Und damit wollte sie die Diskussion beenden.

„Ja, wenn der Umfang der Beine nicht mit dem Umfang des Bauches mit wächst, sieht es eben so aus“, konterte ich und zeigte ihr ein Foto von der Bundeskanzlerin aus der aktuellen Tageszeitung. Da saß die Hose ganz genau so wie bei meiner Mutter. „Wenn es dich beruhigt“, sagte ich ihr, „die Bundeskanzlerin ist mit mehr Bauchumfang und weiteren Hosenbeinen überall in der Welt unterwegs.“

Die Antwort war klar. Nein, so wolle sie auf keinen Fall herumlaufen. Also zog sie die neue Hose wieder aus und die alte wieder an. Welch eine „Überraschung“, die ging sehr schwer zu. Ich fragte sie, ob sie vielleicht eine Zange benötigte, bekam aber keine Antwort. Während ich bei der einen Hose den abgesprungenen Knopf annähte und den Saum ausbesserte, probierte sie im ständigen Wechsel die beiden verschiedenen Hosen an. Gymnastische Übungen sind nichts dagegen. Aufstehen, Hose runterziehen, hinsetzen, ein Bein ausstrecken, wieder anwinkeln, das andere Bein ausstrecken, wieder anwinkeln, die Hose zur Seite legen, die andere Hose in die richtige Position bringen, ein Bein ausstrecken, wieder anwinkeln, das andere Bein ausstrecken, wieder anwinkeln, aufstehen, Hose hochziehen, hinsetzen, aufstehen, Hose runterziehen, Hinsetzen, Bein ausstrecken…….. So ging es eine Weile.

Es nützte auch nichts, wenn ich ihr sagte, dass sie schon mehrmals hin und her probiert hätte. Sie solle sich doch einfach für eine Hose entscheiden. Es gäbe nun mal keine Zwischengröße. Sie könne ruhig mit der größeren von beiden zum Frauenbund-Kaffeetrinken rüber gehen. Was sie dann schließlich auch tat.

Während sie drüben war, kümmerte ich mich noch um den Einkauf und die Mülleimer, in denen ich einiges verschwinden ließ, denn am folgenden Tag war Müllabfuhr. Vorher hatte ich mal wieder heimlich den Kühlschrank-Thermostat höher gedreht. Das steht ganz oben auf meiner Check-Liste. Meine Mutter ist nämlich der Ansicht, dass sie beim Kühlschrank Strom sparen und den Drehschalter auf die niedrigste Stufe einstellen müsse. So etwas hat natürlich Auswirkungen auf die Frische der Lebensmittel und auf den Wohlfühlfaktor der Salmonellen und Schimmelpilze. Während die Lebensmittel wieder runterkühlten, fuhr ich in der Hoffnung nach Hause, dass meine Mutter endlich auch das Stromsparen vergisst. Dann hätte der Gedächtnisschwund wenigsten mal einen positiven Effekt. Aber eines mussten wir im Laufe der letzten Jahre mit unserer Mutter feststellen: Es ist kein Verlass auf die Demenz!

Schimmelpilz im „Ponyhof“

Wo Schwarzbrot draufsteht ist auch Schwarzbrot drin, denke ich so bei mir, während mich ein Prachtexemplar von einem grau weiß grünen Schimmelpilz durch die Schwarzbrot-Plastiktüte anguckt. Die liegt auf der Küchen-Arbeitsplatte meiner Mutter. Ich frage mich, ob früher Penicillin aus solchen Pilzen hergestellt wurde, bin jedoch heilfroh, dass eine Folie zwischen dem Pilz und mir ist und ich die Sporen nicht einatmen muss.

Mit der Tüte in der Hand bringen mich meine Füße fast automatisch zum Treteimer. Als ich das Pedal trete und sich die Klappe öffnet, schlägt mir eine krasse Duftwolke entgegen und ein Schwarm Fruchtfliegen freut sich auf die neu gewonnene Freiheit, während sich von hinten der Protest meiner Mutter auf mich richtet. Glücklicherweise muss ich diesmal nicht ganz so viel Überzeugungsarbeit leisten. Der enorme Pilz spricht für sich. Das Ganze verlangt nach einem sofortigen Etagenwechsel. Deshalb bringe ich die Müllbeutel in den Keller zum Mülleimer. Dort sind sie sicherer. Ich glaube, meine Mutter würde sie nicht wieder herausnehmen, ganz im Gegensatz zu abgelaufenen Medikamenten und Drogerie-Artikeln. Deshalb erfahren die von mir grundsätzlich einen Ortswechsel. Bis auf ein paar nostalgische Museumsstücke lasse ich sie diskret in meiner Tasche und dann in meinem Auto verschwinden. Sonst kann es schon mal vorkommen, dass sie beim nächsten Besuch wieder an ihrem gewohnten Platz stehen.

Es ist Sommer; und damit das neue Paket Schwarzbrot nicht wieder zu einem großen Schimmelhaufen mutiert, liegt es nun im Kühlschrank. Die Karotten, die in einer feuchten Plastiktüte vergeblich auf ihre Erlösung, äh Verarbeitung warten, passen sich mit ihren großen schwarzen Flecken farblich an. Das haben sie mit den grünen Bohnen gemeinsam. Das Schwarzbrot bleibt zwar nun, Kühlschrank sei Dank, länger frisch als auf der Arbeitsplatte, aber es gibt einen klitzekleinen Nachteil. Meine Mutter findet es nicht, selbst wenn sie es im Kühlschrank suchen würde. Sie hatte noch nicht einmal den Joghurt „Der Große Landwirt“, äh „Der Große Bauer“ gefunden, obwohl die großen Becher die Poleposition ganz vorne im Kühlschrank haben. Was soll man machen?

Meine Mutter kann alles allein. Davon ist sie überzeugt. Pflege- und Reinigungskräfte werden von ihr erfolgreich vergrault. Sie fühlt sich wohl in ihrer Welt und will 100 Jahre alt werden wie ihr Onkel. Sie braucht angeblich keine Hilfe. Dabei merkt sie einfach nicht, dass sie ohne unsere Hilfe schon weg vom Fenster gewesen wäre (in ihrem Haus).

Ihren drogenkranken Enkel hatte sie vorher lange Zeit als „Hausmeister“ bei sich im Haus wohnen. Leider erschien er nie pünktlich zum Essen, was meine Mutter dazu veranlasste, ihre Essen-Zeiten diesbezüglich ständig anzupassen. Ihre Flexibilität kennt keine Grenzen, wenn es um diesen einen Enkel geht. Seine Hauptaufgabe sah er im Lohnempfang. Er arbeitete grundsätzlich nur gegen Vorkasse mit zusätzlicher, anschließender Entlohnung, inklusive Vorschuss fürs nächste Mal. Arbeitstechnisch war er dann jedoch irgendwie ständig verhindert oder unpässlich, achtete aber umso beflissener auf fließende „Lohnfortzahlung“ zur Kostendeckung. Es gab viel zu tun im Haus, besonders weil es nicht getan wurde.

Meine Mutter weiß: Das Leben ist kein Ponyhof. Aber das Leben ist auch kein Pflegeheim. Doch ihre Beratungsresistenz arbeitet kräftig daran.