Wenn die Nachtmusik durchs Haar pfeift

Meiner Mutter mussten dringend die Haare gewaschen und geschnitten werden. Letztes Jahr hatten meine Schwester und ich es noch geschafft, sie zum Friseur zu bekommen. Jetzt ist diesbezüglich nichts mehr zu machen. Aber zufrieden scheint sie mit ihrer Hippiefrisur nicht zu sein, denn ich fand Haare in ihrem Waschbecken; sie hatte sich ihren Pony mit der spitzen Nagelschere geschnitten. Auweia, das hätte auch ins Auge gehen können.

Ich fragte meine Mutter, ob sie nächste Woche mit dieser „Frisur“ zum Frauenbund-Kaffeetrinken rüber gehen wolle. Worauf sie nur trotzig entgegnete: „Wieso, das ist doch mal was anderes.“ Aber die netten Frauen würden vermutlich eher eine gepflegte Frisur als etwas anderes bezeichnen und nicht den bekannten muffigen Wischmopp.

Als ich die Mitarbeiterin vom ambulanten Pflegedienst kürzlich bei ihr antraf und das Haarewaschen ansprach, sah ich die Verzweiflung in ihren Augen – also in den Augen der Betreuerin, nicht in denen meiner Mutter. Kennen sie den Film »Harry und Sally«? Die Dame vom ASB schaute mit genau diesem hilflosen Blick, mit dem der Kellner Harry anschaute, während Sally ihre komplizierten Extrawünsche bestellte. Dagegen drückte der Blick meiner Mutter eher Entschlossenheit aus. Sie war wild entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen. Als ob eine Haarwäsche lebensgefährlich wäre. Und – ja, ich weiß: Den Kriegswinter hätten sie auch ohne Haarewaschen überlebt.


Aber auch ich war an diesem Tag wild entschlossen nicht aufzugeben und hatte deshalb meine Haarschneideschere mitgebracht. Als meine Mutter und ich am Küchentisch saßen, trommelte sie wieder einmal mit allen Fingern auf dem Tisch herum, wie sie es oft macht, wenn sie lange Weile hat oder Aufmerksamkeit haben möchte. Ich fragte sie, ob sie gerne Schlagzeug spielen würde. Nein, sie ahmte das Klavierspielen nach, wie sie mir lächelnd versicherte. Leider ist sie wegen ihrer starken Finger-Arthrose nicht mehr in der Lage, das echte Instrument im Wohnzimmer zu spielen.

Früher hatte meine Mutter oft abends, wenn wir Kinder im Bett lagen, Eine Kleine Nachtmusik von Mozart erklingen lassen. Das war ihr Lieblingsstück. Und es war das Stück in ihrem Repertoire, das sie am besten beherrschte. Als ich jetzt am Küchentisch anfing die kleine Nachtmusik zu pfeifen, setzte sie augenblicklich mit ihrer trommelnden Begleitung ein. Das bereitete uns so viel Spaß, dass wir gar nicht mehr aufhören konnten.

Ich pfeife wirklich gern. Das scheine ich von meinem Vater übernommen zu haben. Wenn er im Sommer mit heruntergelassener Seitenfensterscheibe nach Hause kam, konnten wir sein Pfeifen schon hören, bevor wir sein Auto sehen konnten. Auch das Herannahen meiner Schwester heute ist oft kaum zu überhören. Das Pfeifen scheint bei uns in der Familie zu liegen.

Durch unser gemeinsames Pfeif-Konzert in der Küche war meine Mutter nun so gut gelaunt gewesen, dass ich die Gunst der Stunde nutzte und meine Haarschneideschere und einen Kamm aus der Tasche zog. „Nur ein wenig die Spitzen“, sagte ich, während ich ihr schnell ein Handtuch umlegte und  weiterpfeifend begann, das Haar zu schneiden. Das ist sozusagen Multitasking unter erschwerten Bedingungen, bei denen Pflegegrade mit im Spiel sind. Während ich die Haare kürzte, hörte ich immer wieder: „Nicht so viel, jetzt ist aber genug ab!“ Aber wenn ich erwiderte, dass ich doch gerade erst angefangen hätte zu schneiden, ließ sie mich gewähren. Ihr fehlendes Kurzzeitgedächtnis spielte mir sozusagen in die Hände und bescherte meiner Mutter endlich mal wieder eine Frisur. Ich war erleichtert.

Das Leben ist nicht leicht. Aber wie immer es auch läuft, manchmal ist man versucht zu sagen: „Was soll´s – Hauptsache die Haare liegen.“ Das hatte Mozart bestimmt auch so manches Mal gedacht – und sich seine weiße Perücke aufgesetzt.

Als ich fertig war, gingen wir gemeinsam ins Bad, um den Haarschnitt im Spiegel zu begutachten. Als sie sich so sah, war sie plötzlich einer Haarwäsche nicht mehr völlig abgeneigt. Ich ergriff auch hier wieder sofort die Gelegenheit und meine Mutter beim Schopfe. Sie genoss die Haarwäsche. Nach dem Föhnen sagte sie, dass es sich gut anfühlen würde. Ich durfte sogar noch ein paar Korrekturen vornehmen, während sie vor dem Fernseher saß. Natürlich hätte ich das muffige Haar lieber zuerst gewaschen und dann geschnitten, aber hohe Ansprüche darf man bei einem dementen Menschen nicht stellen. Ich konnte froh sein, dass es diesmal überhaupt geklappt hatte.

Für mich wäre es heute ein ziemlich erfolgreicher Nachmittag gewesen, wenn der Staubsauger, für den ich kürzlich extra neue Beutel gekauft hatte, nicht so stark geschwächelt hätte. Die Beutel hätte ich mir sparen und lieber gleich einen neuen Staubsauger kaufen können. Warum hat mir die Reinigungskraft denn nicht schon längst gesagt, mit welcher Krücke sie in der Wohnung meiner Mutter saugt. Ich hatte ihr doch angeboten, alles zu kaufen, was sie benötigt. Dieses Exemplar pfeift aber auch aus dem letzten Loch, statt richtig zu saugen. Ich meine den Staubsauger, nicht die Reinigungskraft.

Sie sehen, das Leben sorgt immer dafür, dass man auf dem Teppich bleibt. In diesem Fall blieben sogar die Haare drauf. Dafür, dass der Staubsauger sich beruflich bereits zur Ruhe gesetzt zu haben schien, sorgte er noch für viel Wirbel und machte einen Riesenkrach. Nah warte, dachte ich, in Kürze kannst du im Keller dem Zweitstaubsauber Gesellschaft leisten. Der befindet sich bereits wegen unbefriedigender Saugleistungen im Vorruhestand. Ja, so etwas kommt dabei heraus, wenn man am falschen Ende spart und billige Geräte kauft. Ich werde also demnächst ein neues leistungsstarkes Modell besorgen, dachte ich und wusste schon, was auf mich zukommen wird, nämlich tägliche Anrufe mit folgendem Inhalt in verschiedenen Variationen: „Hier ist ein Staubsauger, der mir nicht gehört! Wo ist mein Staubsauger? Ich will sofort meinen alten zurück! Der ging noch wunderbar. Ich weiß gar nicht, was ihr immer habt?“ Die Aussicht auf die unvermeidlichen Diskussionen war nicht prickelnd, aber nun musste ich erst mal irgendwie zusehen, wie ich die abgeschnittenen Haare vom Fußboden weg bekam.

Als ich mich später endlich wieder setzen konnte, kamen wir auf die Kleine Nachtmusik zurück. Meine Mutter gestand mir, dass sie sich früher hier im Hause kaum getraut hatte, andere Stücke zu spielen, weil sie befürchtete, die nicht gut genug zu beherrschen. Sie genierte sich vor ihrer Schwiegermutter, die ausgebildete Pianistin war und außerdem noch über das absolute Gehör verfügte. Schade eigentlich, denn meine Mutter spielte sehr gefühlvoll und meine Großmutter war ein sehr lieber und zufriedener Mensch; die hätte sich bestimmt gefreut und keine Kritik geübt.

Später begleitete mich Die Leichte Kavallerie nach Hause. Ich konnte nicht anders als laut mitzupfeifen, während ich über die Autobahn preschte. Diese großartige Ouvertüre von Franz von Suppé wäre für einen Film geeignet, in dem der Retter naht. Ich hatte heute keine große Tat vollbracht, aber mit Hilfe Einer Kleinen Nachtmusik habe ich den inneren Schweinehund und den äußeren Struwwelpeter meiner dementen Mutter in den Griff bekommen.

Mozart möge mir verzeihen, dass ich sein Werk dafür benutzt habe. Aber ich glaube, er hätte laut gelacht. Schließlich war er ja auch nur ein Mensch, und er war alles andere als zimperlich.

Du kriegst die Motten

Meine Mutter ist ein bodenständiger Mensch, man kann sagen, sie ist immer auf dem Teppich geblieben – und das wird sich wohl auch nicht ändern.

Als ich sie gestern besuchte, fand ich sie auf einem Teppich sitzend, eingeschlafen vor. Sie hatte sich eine ihrer kleineren Perser-Brücken auf einen Sesselstuhl ihres Balkons gelegt. Dabei hätte sie es sich so bequem machen können mit einer der neuen, dick gepolsterten Auflagen, die in der Box neben den Stühlen aufbewahrt werden. Aber die kleine Brücke war mit nur einem Griff einsatzbereit.

Als sie aufwachte, wollte sie für mich dann auch gleich ein solches Exemplar auf einen Stuhl legen. Es befinden sich nämlich neuerdings mehrere Läufer aufgerollt auf ihrem Balkon. Sie stammen allesamt aus ihrem „eisernen“ Teppich-Vorrat, der sich in ihrem Schlafzimmer befindet. Leider fanden die Motten REINE Schurwolle, die nicht regelmäßig gesaugt wird – und wenn, dann nur von einem Staubsauger, der seinen Namen nicht verdient – zum Anbeißen, zumindest für ihre Brut.

Nachdem meine Mutter die Motteninvasion entdeckt hatte, brachte sie die sichtbar befallenen Läufer auf den Balkon in die Sonne. Ich weiß nicht, ob das die richtige Maßnahme ist, denn die Motten sind seitdem noch schneller am Ort ihrer Begierde, denke ich. Und sie haben es sehr gemütlich, solange die Brücken eingerollt bleiben. Außerdem ist der Balkon für diese ”possierlichen Tierchen“ sicherer als das Schlafzimmer, das ich inzwischen mit Mottenfallen und Mottenvernichter ausgestattet habe.

Ich glaube nicht, dass ich den Perser-Brückenvorrat retten kann. Aber wozu auch? Wer fliegt schon heute noch auf solche Teppiche? Höchstens Motten! Dann kann ich nur sagen: Guten Appetit!