Als ich noch Single war und mein Vater noch lebte, machten meine Eltern und ich einmal zu Weihnachten einfach so zum Vergnügen ein Rollenspiel. Wir saßen alle am Esstisch und mein Vater war der Graf, mir wurde die Rolle der Gräfin zugedacht und meine Mutter sollte das Kind spielen; es hieß Esmeralda Katastropha. Unser Esmeraldchen war unverbesserlich und hatte nur zwei Dinge im Kopf: Gärten und Bücher. Man konnte nun meinen, dass wir den gepflegtesten „Schlossgarten“ hätten und Esmeraldchen besonders gebildet wäre, aber sie war im Garten nur an der Ernte interessiert und bei Büchern nur am Verschlingen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Früchte aß sie und die Geschichten vergaß sie.
Esmeralda, äähhh meine Mutter hat im richtigen Leben vier Kinder zur Welt gebracht. Zuerst zwei Jungen und dann zwei Mädchen. Ihre Jüngste, also meine Schwester, hat sich immer verantwortlich gefühlt und um vieles gekümmert. Man könnte sagen, Initiative ist ihr zweiter Vorname. Sie hat immer wieder den sehr weiten Weg auf sich genommen und alles stehen und liegen lassen, um unsere Mutter zu besuchen oder sie zu sich zu holen und ihr Heilpraktiker-Behandlungen und Massagen zu kommen zu lassen. Sie machte es wie selbstverständlich, obwohl unsere Mutter jedes Mal stundenlang und tagelang zu ihrem Glück überredet werden muss.
Mein zweiter Vorname ist Anpassung. Ich fühlte mich schon immer für die Harmonie zuständig. Dafür habe ich versucht alles passend zu machen und selber oft zurückgesteckt. Das war natürlich meiner Persönlichkeitsentwicklung nicht zuträglich. Ab und zu beschwert sie sich bitter. Und es ist wahnsinnig kräftezehrend, immer als Harmonie-Beauftragte zu agieren: im Elternhaus, im Zuhause mit der Schwiegermutter damals, in der Arbeit, in Gruppen… Zum Glück kann ich mich beim Schreiben austoben und muss mich da nicht zurückhalten – ein gutes Gefühl.
Und dann ist da noch mein dritter Vorname, die Ordnung, die mein Leben mitbestimmt. Ich muss immer alles im Überblick behalten, was mir zu Hause auch wunderbar gelingt. Auch bei der Vermögenssorge meiner Mutter läuft alles wie am Schnürchen und ich weiß, was zu tun ist. Aber in Bezug auf mein Elternhaus sind Hopfen und Malz verloren. Das hatte mich schon früher gestört. Aber damals war meine Mutter noch nicht dement und wusste mit ihrem hausgemachten Chaos sehr gut umzugehen. Inzwischen hat auch sie den Überblick völlig verloren. Da passiert es schon mal, dass Kleidungsstücke für Tage „verschwinden“ und dann wie aus dem Nichts wieder auftauchen.
Meine Schwester hat dann immer folgenden Spruch auf den Lippen: „In einem geordneten Haushalt geht nichts verloren“, sagte die Mutter und fischte den Strumpf aus der Tomatensuppe.
Gut, Letzteres ist bei uns natürlich nie vorgekommen. Und jetzt kann es nicht passieren, denn unsere Mutter kocht nicht mehr selbst. Schade eigentlich, denn ihre Tomatensuppe war immer sehr schmackhaft – auch ohne solche „Geschmacksverstärker“.
