Superman mit Installationshintergrund

Nachdem nun das Essen vom Feinkostladen an der Ecke täglich „anrollt“ und meine Mutter von dem netten Türken und seinen Kochkünsten offenbar begeistert ist, hege ich nun die berechtigte Hoffnung, dass bei meiner Mutter die nächste Festung fällt, und zwar die Hausmeister-Abwehr-Festung.

Wir hatten vor zwei Jahren für sie und ihr großes Haus einen Hausmeister engagiert. Er sollte auf „Zuruf“ kommen und meine Mutter auf diese Weise entlasten. Aber sie will lieber selbst im Dunkeln Schnee fegen. Ihres Erachtens bräuchte sie keine Hilfe, wo sie doch noch alles alleine könne. Sie benimmt sich wie ein kleines Kind. „Alleine“ war höchstwahrscheinlich ihr erstes Wort, als sie zu sprechen begann. Schade, dass ich meine Oma nicht mehr danach fragen kann.

Dann setzte meine Mutter noch einen drauf und meinte, der Hausmeister könne sowieso nichts. Gut, einen Installations-Hintergrund schien er wirklich nicht zu haben. Denn nachdem er einen Wasserhahn repariert hatte, musste doch noch einmal ein Klempner kommen und sich der Sache als Fachmann annehmen. Aber sonst machte er seine Arbeit gut.

Trotzdem ließ meine Mutter kein gutes Haar an ihm. Sie quakte weiter, dass ihr der Hausmeister nicht gefallen würde und sie ihn nicht ausstehen könne. Außerdem wäre er „lahmarschig“. Letzteres kann ich nicht beurteilen, denn meistens treffe ich ihn nicht persönlich. Bisher sah ich ihm nur einmal bei der Arbeit zu. Da ging er vor mir in die Hocke und ich war urplötzlich mit einem üppigen Maurer-Dekolleté konfrontiert. Diskret sah ich zur Seite und mich deshalb heute noch außer Stande seine Arbeitsgeschwindigkeit zu beurteilen.

Nachdem meine Mutter weiterhin bei jeder Gelegenheit betonte, dass ihr der  Hausmeister nicht gefällt, bot ich ihr an, nach einem „schönen“ Exemplar dieser Gattung Ausschau zu halten. Ich machte ihr aber keine großen Hoffnungen. Denn wenn es tatsächlich einen Hausmeister vom Typ „Superman mit Installationshintergrund“ geben sollte, würde der mit Sicherheit nicht in ihrem außergewöhnlichen Anwesen anfangen wollen. Als ich ihr das schonend beibrachte, sagte mir ihr verstehendes Lächeln:

„Die Hoffnung stirbt zuletzt!“

Wer nicht will, der hat!

In den letzten Jahren lehnte es unsere Mutter immer kategorisch ab, sich Essen auf Rädern „anrollen“ zu lassen. Aber nach ihrer Operation vor zwei Jahren probierten wir diesen Service einfach aus. Wir bestellten ihr für eine Woche fertige Menüs, sodass sie täglich versorgt wurde. Die Bezeichnung „Essen auf Rädern“ wurde von uns aus psychologischen Gründen tunlichst vermieden – von der Firma auch, denn sie warb mit einem „Menü Lieferservice“. Ich weiß nicht, ob die Mahlzeiten so gut geschmeckt hatten, wie sie auf den Fotos aussahen. Unsere Mutter wollte sie jedenfalls nie wieder haben und behauptete selbstbewusst, sie würde sich täglich selbst Essen kochen.

Anderthalb Jahre später nutzten meine Schwester und ich die Gunst der Stunde für einen zweiten Versuch. Wir waren wieder einmal gemeinsam eine ganze Woche durchgehend bei unserer Mutter zu Besuch. Über diese kostbare Zeit mit ihren Töchtern ist sie immer überglücklich. Wir unterhalten uns dann über Gott und die Welt, unternehmen etwas, schauen uns Fotos an … Wenn sie immer und immer wieder die gleichen Fragen stellt,  schalten wir beim Antworten auf „Automatik“. So ist und bleibt es harmonisch. Und wir essen natürlich zusammen.

Das war für uns DIE Gelegenheit ihr zu demonstrieren, wie gut man das Essen vom Lieferservice genießen kann. Um ja keinen Fehler zu machen, probierten wir einen anderen Anbieter. Der Name „Landhausküche“ klang auch sehr viel besser als der erste. Meine Schwester und ich hatten uns nun also freiwillig als Versuchskaninchen für eine einwöchige Testreihe zur Verfügung gestellt.

Gemeinsam mit unserer Mutter aßen wir uns durch die aktuelle Speisekarte, indem wir uns täglich drei verschiedene Gerichte liefern ließen. Was soll ich sagen? Bei jedem Menü standen sich Geschmack und Konsistenz auf der einen Seite und der Anbietername auf der anderen Seite umgekehrt proportional gegenüber. Im Grunde waren die in Plastik verpackten Portionen in den Garwägen „verkocht“ worden. Wir mussten unserer Mutter Recht geben und hörten damit auf, ihr ein warmes „Essen auf Rädern“ zu empfehlen. Immer gemäß ihres eigenen Mottos: Wer nicht will, der hat! 

Aber seit Kurzem spürt unsere Mutter, dass ihre Kräfte schwinden. Ihr ist klar geworden, dass sie gar nichts mehr kocht und sich im weitesten Sinne nur noch von Brot und Joghurt ernährt. Ist die Zeit nun reif für einen Lieferservice? Wir nutzten sofort die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Meine ökoangehauchte Schwester, die sich ohnehin immer über zu viel Plastik im Alltag aufregt, hatte sofort eine Idee. „Wir können doch den Mittags-Tisch-Lieferservice vom türkischen Feinkostladen an der Ecke nutzen. Dann kommt das Essen auf einem Porzellanteller und wird nicht drei Stunden durch die Gegend gefahren.“ Als ich unsere Mutter auf diese geniale Lösung vorbereiten wollte, traute ich meinen Ohren nicht: „Nein das will ich nicht!
Ich will Essen auf Rädern!“

 

Rollatorsprint ohne Rentier

Meine Mutter hatte sich wahnsinnig über die Weihnachtskarte meiner Schwester gefreut. Einerseits wohl, weil der alljährliche Jahresrückblick dieses Mal in Reimform verfasst war, andererseits, weil nur positive Erlebnisse zum Zuge kamen. Also fragte sie mich bei meinem letzten Besuch immer und immer wieder, ob sie mir die »Sternstunden des Jahres« mal vorlesen soll. Ich sagte immer und immer wieder ja, denn eine vorlesende Mutter ist eine gute Mutter.

Wenn ich noch Kind wäre, hätte ich jetzt keine Sorge mehr, was ich vor dem Tannenbaum aufsagen soll.

Zwischendurch ging meiner Mutter immer wieder der halb abgeschnittene Finger eines ihrer Enkelkinder durch den Kopf und sie ließ für kurze Zeit das Vorlesen sein. Es war gemütlich, wir tranken Nescafé, während sich die Weihnachtspyramide drehte und die Lieblings-Trödel-Show im Fernsehen lief. Das Radio in der Küche hatte ich mir dann erlaubt auszuschalten. Man muss aufpassen wegen der Reizüberflutung, oder besser gesagt ICH MUSS AUFPASSEN, nicht meine Mutter. Mit anderen Worten, der Nachmittag war gar nicht schlecht. Meine Mutter hatte sich über meinen Besuch und die gemeinsame Zeit gefreut und das tut mir immer gut.

Der Kühlschrank ist nach unserem gemeinsamen Einkauf mit dem Rollator, einschließlich Rollator-Sprint über die Riesenkreuzung, wieder sinnvoll aufgefüllt – zumindest bis zu meinem nächsten Besuch.

Wenn drei Fahrbahnen gleichzeitig während einer Grün-Phase überquert werden müssen, gibt es bei meiner Mutter kein Halten mehr. Mit einer ruckartigen Bewegung puscht sie ihre Gehhilfe plötzlich nach vorn. Es fehlt nur noch, dass sie „Hüh“ ruft. Leider hat der Rollator kein Rentier vorgespannt. Vielleicht sollte meine Mutter nicht so viele Weihnachtsfilme schauen.

Die eingesiegelte Knipp-Scheibe (eine Riesen-Grützwurst, die vor allem in Niedersachsen und Bremen scheibenweise gebraten und verzehrt wird), die vom „ambulanten“ Bauern geliefert wurde und schon lange im Kühlschrank auf ihre Erlösung wartet, wird immer dunkler. Bei meinem nächsten Besuch werde ich sie verschwinden lassen, sofern ich es schaffe. Offiziell geht in dieser Beziehung ja nach wie vor nichts.

Ich weiß nicht, was gefährlicher für meine Mutter ist, eine Lebensmittelvergiftung oder das Überqueren der großen Kreuzung einschließlich Straßenbahnschienen bei ROT.

Vom Pflegedienst ist jetzt ein neuer Duftspender in die Toilette eingesetzt worden, der es echt in sich hat. Die Geruchs-Verbesserer-Entwicklung scheint echte Fortschritte gemacht zu haben. (Kein Wunder, es gibt schließlich immer mehr Menschen, die nicht mehr ganz dicht sind und nur noch wenig bis gar nichts mehr riechen können.)

Die Einmalwaschlappen finden leider nicht die erhoffte Akzeptanz bei meiner Mutter. Sie bevorzugt nach wie vor Stofflappen, leider immer ein- und denselben, wenn man ihn nicht heimlich entsorgt. Aber sonst haben wir alles im Griff auf dem sinkenden Schiff. Ich sage mir: „Keine Panik auf der Titanic.“

Wenn mich jemand fragen würde, ob man als Angehöriger mit diesen ganzen Umständen leben kann, sage ich: „Ja, es ist möglich und ich werde es auch weiterhin tun, denn ich halte es für übertrieben, NUR deshalb mit dem Leben aufzuhören.“

In diesem Sinne wünsche ich allen Bloglesern frohe Weihnachten.

Schuhkauf mit Röntgenstrahlen?

Bei uns zu Hause ist der Wohnbereich hauptsächlich gefliest. Allein deshalb möchte ich nicht, dass jemand auf Strümpfen läuft. Man kann leicht ausrutschen und bekommt obendrein noch kalte Füße.

Als meine Schwägerin einmal zu Besuch war, hatte ich zunächst nicht mitbekommen, dass sie ihre Schuhe ausgezogen hatte. Als ich es später sah, zog ICH sie ihr, ohne Widerrede zu dulden, einfach wieder an. Dazu hockte ich mich vor sie hin, wie eine Schuhverkäuferin in den 1960er und 1970er Jahren. Wir mussten lachen, weil wir beide das Bild vor Augen hatten, wie man früher im Schuhgeschäft bedient und beraten wurde.

Erinnern SIE sich noch? Wer sich früher Schuhe kaufen wollte, setzte sich im Schuhgeschäft auf einen mehr oder weniger bequemen Stuhl und sagte der Verkäuferin – es gab in dieser Branche nur sehr selten Männer – was er sich als Neuschuh vorstellte, Farbe, Form, Absatzhöhe usw. Die Verkäuferin holte daraufhin mehrere Schuhkartons aus dem Lager und stellte sie neben sich auf den Boden. Dann setzte sie sich mit ihrem engen Bleistiftrock geschickt schräg auf einen sehr niedrigen Hocker direkt vor den potenziellen Kunden.

Der Hocker war mit einer abgeschrägten Fläche versehen. Auf die musste der Kunde einen Fuß setzen, damit sie ihm den Schuh ausziehen und den neuen Schuh mit einem Schuhlöffel anziehen konnte. Natürlich wurden auch die Schnürsenkel oder die Schnalle von ihr geschlossen. Danach durfte der Käufer ein paar Schritte durch das Geschäft gehen. Die ganze Prozedur wurde mit den anderen Schuhen wiederholt.

War sich jemand mit der Größe nicht sicher, wurden die neuen Schuhe AM Fuß mithilfe eines riesigen Spezialgerätes mit Röntgenstrahlen(!) durchleuchtet. Ja, sie haben richtig gelesen. Dazu mussten die Kunden ihre neu beschuhten Füße in eine dafür vorgesehene Öffnung des Gerätes stellen und konnten dann von oben ihre eigenen Fußknochen zusammen mit den Umrissen des neuen Schuhs sehen. Auf diese Weise wurde (hauptsächlich bei Kindern!) kontrolliert, ob die Schuhe groß genug waren.

Dass die Strahlung nicht wirklich gesundheitsfördernd war, insbesondere für das Personal, wurde lange ignoriert. Schließlich suggerierte das Schuhgeschäft durch solch ein modernes Gerät, dass es „nur das Beste“ für seine Kunden im Sinn hatte und dabei keine Kosten und Mühen scheute, dieses Ziel zu erreichen. In Wirklichkeit drehte sich schon damals alles nur darum, den Umsatz zu steigern. Das ist heute nicht anders. Viele Unternehmen legen fragwürdige Praktiken an den Tag, umgehen gesetzliche Regelungen oder nutzen entsprechende Lücken aus, um den Verkauf ihrer Ware zu fördern. Manche gehen dabei sogar über Leichen, wie man beim Silikonskandal gesehen hat, und müssen meistens noch nicht einmal Schadensersatz leisten. Aber das nur nebenbei.

Als meine kleine Schwester nach dem Abitur für kurze Zeit als Schuhverkäuferin jobbte, waren die Zeiten der unkontrollierten Strahlung zum Glück längst vorbei. Verantwortliche hatten das „Spezialmessgerät“ zum Glück aus dem Verkehr gezogen. (Ansonsten hätte sich vermutlich meine Öko-Schwester darum gekümmert. Sie engagierte sich schon von Kindesbeinen an für eine gesunde Umwelt.) Meine Mutter konnte damals nicht verstehen, dass sie die so vielversprechende „Schuhverkäuferinnen-Karriere“ schon nach ein paar Monaten an den Nagel hing, NUR um zu studieren. Wie kann man eine solch gute und sichere Stelle aufgeben? Schließlich handelte es sich bei dem Schuhgeschäft um das erste Haus am Platz.

Die Vorstellungen meiner Mutter wichen schon immer von denen ihrer Kinder ab. Sie kann auch nach wie vor nicht verstehen, dass ich unsere Fußböden nicht mit teuren Perser-Teppichen und Brücken zu puzzle, so wie sie. Bei ihr ist der Schmutz Dank der gemusterten Teppiche zwar spurlos unsichtbar aber nicht spurlos verschwunden. Ich habe lieber Spuren von sichtbarem Schmutz und investiere statt in teure Stolperfallen in ein modernes Bodensaug- und Wischsystem.

Ich mag Brücken, die in einem idyllischen Park romantisch über Wasserläufe führen. Aber  Brücke an Brücke auf Fußböden ist nicht so meins. Die überlasse ich meiner Mutter, immer nach dem Motto:

Über sieben Brücken musst Du geh’n,
Die kannst Du gar nicht übersehen!
Schmutz und Dreck sind nunmehr außer Sicht,
Du wirst stolpern, aber putzen musst Du nicht.

Stadtauswärts zur alkoholfreien Kultur

Die Nachbarin und Freundin meiner Mutter, Elfriede, hat sich schon lange vom aktiven Vereinsleben der Alkoholfreikulturellen zurückgezogen und lebt im Heim, aber meine Mutter ist nach wie vor Mitglied und will an jedem Event teilnehmen. Sie will alles Mögliche mitmachen. Das ist ihr Rhythmus, bei dem sie immer mit muss. Zumindest meldet sie sich stets dafür an, auch wenn sie kurz vor dem Termin wieder einen Rückzieher macht.

Dieselbe Prozedur wie letztes Mal? Dieselbe Prozedur wie jedes Mal! Das kenne ich schon und bin im Grunde darauf vorbereitet; so war es auch vor ein paar Tagen.

Sie hatte mich darum gebeten, sie zu dem gemütlichen Beisammensein zu fahren, was ich auch gerne tat. Es fand diesmal in einem Gemeindehaus weit draußen statt. Als ich bei ihr ankam, jammerte sie erst einmal, dass es ihr nicht gut gehen würde und sie ohnehin nicht zu dem Treffen wolle. Natürlich war sie auch noch nicht umgezogen und stand vor mir in ihrer viel zu weiten karierten Stoffhose und der alten Ringelbluse, die sie lässig mit einer Kunstfellweste kombiniert. (Ihre Lieblingsstücke für den Alltag.) Es dauerte eine Weile und es brauchte viel Zusatzarbeit und Überredungskunst meinerseits, bis wir endlich im Auto saßen und stadtauswärts fahren konnten.

Durch diese Gegend war ich als Kind oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren. Ich erkannte die Häuser, aber trotzdem wirkte alles so fremd. Es waren viele verschiedene Menschen aus vielen unterschiedlichen Nationen unterwegs. Alles sah ziemlich durcheinander aus und viele Häuser waren äußerlich heruntergekommen. Für mich ein bisschen zu viel Realität für diesen Nachmittag, der schon so very angenehm bei meiner Mutter begonnen hatte. Ich war heilfroh, dass nicht auch noch Elfriede mit von der Partie war; sie hätte mir den Rest gegeben.

Meine Mutter war wie aufgezogen und erzählte und fragte immer und immer wieder das Gleiche. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb stellte ich innerlich auf Automatik, so wie ich es oft bei ihr tue. In meinem bewegungslosen Gesicht formten meine Lippen immer wieder die gleichen Antworten, während meine ausdruckslosen Augen starr auf den Verkehr gerichtet waren. Bis ich plötzlich mit folgender Frage aus meiner Lethargie gerissen wurde: „Guck mal, würdest du mit einem so braunen N…. fahren?“

Was soll ich sagen? Meine Mutter sagt, was sie denkt und sie denkt sich nichts dabei. Political Correctness: Fehlanzeige.

Ich hatte plötzlich wieder einen Gesichtsausdruck, aber mir fehlten die Worte und für eine Diskussion die Kraft. Und mir fehlten in diesem Moment meine Sphäre und meine Ordnung. Und während ich auch noch mit fehlender Vorfreude weiter durch die multikulturelle Gegend zu dem alkoholfreikulturellen Kaffeeklatsch fuhr, hielt ich mich mit meiner Lieblingsstrophe eines Gedichtes emotional über Wasser:

Meines Lebens Wunsch ist stiller Friede,
Guter Bücher eine kleine Zahl,
Ein geprüfter Freund mit einem Liede,
Und der Sparsamkeit gesundes Mahl.

Ziemlich schlechteste Freundinnen

In der Nachbarschaft meiner Mutter wohnte, solange ich denken kann, eine eingebildete, kinderlose Frau im gleichen Alter; sie war unerträglich, bildungsfern und zudem hinterhältig. In meiner Mutter hatte sie ein perfektes Opfer gefunden, nämlich einen Menschen, der anderen zwar gerne sagt, was diese tun oder lassen sollen, aber ansonsten harmlos ist. Meine Mutter ist nun einmal kein schlagfertiger Typ, sondern gerade heraus und entschuldigt sich am Ende noch, wenn sich jemand unverschämt oder beleidigend ihr gegenüber verhalten hat. Es kann vorkommen, dass sie die Person sogar noch vor anderen verteidigt. Das muss man nicht verstehen, ist aber so.

Je mehr sie sich gefallen ließ, desto schlimmer wurde sie von der Nachbarin behandelt. Leider war meine Mutter der Ansicht, dass sie jemanden in der Nachbarschaft bräuchte, und sah deshalb über deren Charakter hinweg. Man kann sagen, die beiden waren ziemlich schlechteste Freundinnen. Die Frau, nennen wir sie Elfriede, war Mitglied im »Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kultur« und so wurde auch meine Mutter dort Mitglied.

Dieser Verein veranstaltet regelmäßig gemütliche Treffen und Ausflüge. Als meine Mutter noch nicht lange dabei war, wurde zu einem sogenannten Kohl-und Pinkel-Essen eingeladen. In Norddeutschland ist das ein traditionelles Winter-Essen mit braun-gekochtem Grünkohl und fettiger Grützwurst (Pinkel), zu dem normalerweise Schnaps für die bessere Verteilung des Fettes ausgeschenkt und dieser auch fleißig runtergekippt wird.

So saßen die Frauen also in fröhlicher Runde und unterhielten sich angeregt. Meine Mutter dachte wohl nicht weiter darüber nach, in welcher Gesellschaft sie sich befand, jedenfalls bestellte sie ein kleines Alster, was Elfriede neben ihr sehr wohl mitbekam, aber nicht kommentierte.

Nachdem die Bedienung das kleine Bierglas direkt vor meiner Mutter abgestellt hatte, herrschte augenblicklich Totenstille im Saal. Alle Frauen starrten abwechselnd meine Mutter und das Bierglas an. Man hätte das Fallen eines Korkens in der Gaststätte hören können.

Während die erste Vorsitzende des Vereins meiner Mutter vor allen Anwesenden ganz ruhig erklärte, was alkoholfreie Kultur bedeutet, konnte sich Elfriede das Grinsen nicht verkneifen. Schadenfreude ist eben auch eine Freude. Schuldbewusst und peinlich berührt nahm meine Mutter das volle Bierglas und brachte es zur Theke zurück. Der Bedienung sagte sie: „Die haben gesagt, ich darf das nicht“, und ließ sich ein Mineralwasser bringen.

Seit diesem Vorfall bestellte sie nie mehr Alkohol, jedenfalls nicht in ihrer Frauenbund-Runde. Dafür ließen sich Elfriede und sie nach wie vor jedes Jahr von einem ambulanten Weinhändler mehrere Kartons mit Weinflaschen in ihre Keller liefern, ganz ohne schlechtes Gewissen. Warum auch, man muss doch etwas zum Verschenken im Haus haben. Erfahren sollte das aber niemand. Auch darüber, dass im Kühlschrank kleine »Kuemmerlinge« vor sich hin kümmerten und immer wieder durch neue ersetzt wurden, herrschte einvernehmliches Stillschweigen der beiden Alkoholfreikulturellen.

Wenigstens in dem Punkt funktionierte ihre Freundschaft.

Selbstgestrickte Verehrerabschreckung

Meine Mutter wollte schon immer allen sagen, wo es langgeht. Mich hatte sie auf diese Weise in meiner Entwicklung behindert und gestört, denn sie interessierte sich nicht für meine inneren Bedürfnisse, sie missachtete sie sogar oder zeigte Desinteresse. Mit konstruktiver Kritik hätte ich gerne gelebt. Ich hätte gerne das Gefühl gehabt, beachtet und geachtet zu werden, aber sie setzte Prioritäten zugunsten meiner nur unwesentlich älteren Brüder.

Es wäre wichtig für mich gewesen, einen starken Menschen als Mutter zu haben, der mir Halt gibt und zu dem ich aufschauen kann. Aber stattdessen ließ sie mich mehr oder weniger links liegen. Zeit, mir etwas vorzulesen oder mit mir zu lernen, nahm sie sich nicht. Stattdessen musste ich mir oft anhören, wie toll andere Kinder sind und was die alles können. Wollte sie mich damit motivieren? Dann ging der Schuss nach hinten los. Oder sollte ich künstlich klein gehalten werden, weil ich NUR ein Mädchen war? Wie gern hätte ich Ballett- und Klavierunterricht gehabt, aber dieser Wunsch wurde mit dem Argument vom Tisch gefegt, dass einer meiner Brüder bereits Klavierunterricht habe, ich könne Geige lernen. Ich hatte früh gelernt, nicht zu widersprechen, so lebte ich einfach vor mich hin. Ich kannte es nicht anders, hatte mich damit abgefunden und MEIN Ding gemacht.

Bei mir war alles irgendwie anders. Mit fünf Jahren schon fuhr ich ganz alleine mit der Straßenbahn und dem Bus zu meinen Großeltern. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln brauchte man gut und gerne eine Dreiviertelstunde. Meine Abwesenheit störte niemanden weiter. Ich wurde nicht vermisst, und daran änderte sich nichts.

Mit 16 Jahren wurde ich von anderen Jugendlichen gefragt, wann ich denn am Samstagabend zu Hause sein müsse. Interessante Frage, keine Ahnung, dachte ich. Ich lebte zwar im selben Haus wie meine Eltern und meine Geschwister, aber trotzdem in einer anderen Welt. Aber irgendwie war ich gar nicht so glücklich ohne Zeitlimit, wie andere sich das vorgestellt hatten; sie schienen mich dafür sogar zu beneiden. Wofür? Für Desinteresse? Oder dachten sie, dass meine Eltern besonders großzügig waren?

Mit 19 Jahren zog ich in eine andere Stadt und war dann mal weg.

Ab und zu kam ich für ein Wochenende nach „Hause“. Einmal im Winter war ich wieder zu Besuch und hatte mich mit einem tollen Typen verabredet. Wir wollten uns an der Straßenecke treffen. Als ich aus meinem Elternhaus kam, konnte ich schon sein Auto an der Kreuzung stehen sehen. Und er sah mich von Weitem die Straße entlang auf ihn zu gehen. Aber, oh Schreck lass nach, was war das? Im Schlepptau hatte ich plötzlich eine Frau, mit einer Mütze in der Hand. Ich konnte sie einfach nicht abwimmeln. Sie war lästig wie eine Herzhäuschen-Fliege. Immer wieder sagte ich, dass ich keine Mütze aufsetzen wolle. Erst kurz vor der Straßeneinmündung ließ meine mützenbewaffnete Mutter endlich von mir ab. Ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken, bin dann aber doch lieber in das wartende Auto gestiegen. Mein neuer Verehrer fragte ganz süffisant: „Wurdest du begleitet?“

Andere erleben so etwas im Schlaf und wachen schweißgebadet auf. Bei mir handelte es sich um einen realen Albtraum.

Das war nicht die einzige peinliche Situation, in die mich meine Mutter im Laufe meines Lebens gebracht hatte. Und jedes Mal fragte ich mich, warum sie sich aus dem Nichts heraus plötzlich um Angelegenheiten kümmerte, die ihr zuvor völlig unwichtig gewesen waren, und die ich selber sehr gut im Griff hatte. Schließlich war ich durch die „Erziehung“, die ich genossen hatte, schnell erwachsen geworden und brauchte keine Betreuung und keine Belehrung mehr. Der Zug war schon sehr früh abgefahren.

Ich sage auch heute immer mal wieder zu meiner Mutter: „ICH komme klar. Über MEIN Leben musst Du nicht nachdenken.“

Übrigens: Zum Zeitpunkt der Mützenattacke war ich bereits 26 Jahre. Heute bin ich 31 Jahre verheiratet – mit einem anderen tollen Typen – und trage freiwillig Mützen, wann es mir gefällt. Und diese Teile sind heute zum Glück so cool, dass sie sogar von jungen Männern im Sommer und Prominenten im Rampenlicht ertragen  ähh  getragen werden. Mode macht’s möglich. Wer hätte das damals gedacht.

Gemeinsames Sorgerecht für Notebook

Unsere Tochter lebte fünf Jahre mit ihrem Freund in Süddeutschland, man kann sagen, ganz am anderen Ende unseres Landes. Trotzdem besuchten die Beiden uns gerne, vor allem, wenn noch der eine oder andere Feiertag für ein verlängertes Wochenende sorgte. Aber dann standen sie grundsätzlich jedes Mal auf der Hin- und Rückfahrt im Stau, was keinem Spaß machte. Unabhängig davon zog es unsere Tochter schon seit längerer Zeit wieder zu uns zurück in den Norden und sie fand eine Arbeitsstelle, die nur dreißig Minuten von uns entfernt liegt.

Seit ein paar Tagen wohnt sie nun also übergangsweise wieder bei uns oben im Haus. Und ihr Freund bleibt vorerst allein in der schönen gemeinsamen Wohnung, bis die beiden hier in der Nähe etwas Adäquates für sich gefunden haben. Seinen guten Job will er wohl vorerst nicht aufgeben, dann lieber hoch und runter pendeln und vieles per Homeoffice von uns aus erledigen.

Die beiden haben zwei Laptops. Der eine wird von ihm ausschließlich geschäftlich gebraucht, ist also ein Firmen-Laptop. Den anderen nutzen sie beide für private Zwecke und haben auch das „gemeinsame Sorgerecht“. Geeinigt haben sie sich dann aber darauf, dass dieses Gerät zunächst in der gemeinsamen Wohnung bleibt. Deshalb musste meine Tochter jetzt am Wochenende auf MEINEN Laptop zurückgreifen, was sie ausgiebig und ununterbrochen tat. Auch für ihre neue Firma müsse sie sich einen Überblick verschaffen, was im Garten natürlich nur mit einem Laptop möglich war und nicht mit dem feststehenden Computer im Arbeitszimmer meines Mannes. Will man ihr das verwehren?

Mein Laptop scheint magische Anziehungskräfte zu besitzen. Wenn Gäste ihn nur sehen, fällt ihnen blitzartig ein, was sie eigentlich noch zu erledigen hätten und fragen mich, ob sie ihn mal ganz kurz benutzen dürften. Die Maus geht dann von Hand zu Hand – und das, obwohl alle ein Smartphone besitzen.

Das ohnmächtige Gefühl, das mich wegen meiner unfreiwilligen „Schreibblockade“ überkam, hatte mich letzte Nacht innerlich so aufgebracht, dass ich nicht mehr einschlafen konnte. Solch einen Zustand hatte ich zuletzt vor ungefähr zwanzig Jahren, wegen meiner Schwiegermutter.

Ihnen kann ich es ja ruhig erzählen. Das muss aber unter uns bleiben. In meiner Not habe ich mir jetzt ganz spontan ein Not(e)book gekauft. Es war „not“-wendig und es ist ”NOT“ for everybody!

Zum Frühstücken im Wintergarten werde ich in Zukunft ein zusätzliches Tragegrifftablett benutzen. Zur Qualitätssicherung der Zeitungslese und Schreib-Phase sollten sich darauf grundsätzlich folgende Kommunikationsmittel befinden: ein Laptop, ein Notebook, zwei Smartphones und ein Festnetz-Home-Handy – Willkommen im digitalen Zeitalter.

Mein Mann und ich dürfen jetzt nur unsere Mäuse nicht verwechseln.

Hausgemachte Schreibblockade

Ich habe seit ungefähr zehn Jahren einen Laptop auf der Küchenarbeitsplatte in der Nähe des Ceran-Kochfeldes stehen. Das ist sehr praktisch. Ich kann Mails checken und schreiben, während das Essen vor sich hinköchelt. So fühle ich mich nicht an den Herd gefesselt, sondern mit der Welt verbunden. Das fühlt sich besser an.

Seit einem Jahr liest mein Mann die Zeitung nur noch online und nimmt sich dazu meinen Laptop mit an den Frühstückstisch. So weit, so gut. Aber in unserem diesjährigen Dänemarkurlaub habe ich das Schreiben für mich entdeckt – eine Leidenschaft, die von niemandem eingeschränkt werden soll, auch nicht von nahestehenden Personen. Denn durch das Schreiben bin ich endlich bei mir selbst, weit weg von den Problemen dieser Welt und vom Grübeln oder schon wieder so nah dran, dass ich die Dinge mit viel Humor sehen kann.

Aber wie soll ich schreiben, wenn ich ständig anderweitig beschäftigt werde bzw. nicht an meine Schreibmaschine komme. Damit Sie wissen, was ich meine, beschreibe ich Ihnen mal einen typischen Tag, an dem ich regelrecht behindert werde und meiner Leidenschaft nur schwer nachkommen kann.

Los geht es natürlich am Morgen, direkt nach dem Frühstück. Mein Mann liest seine Laptop-Zeitung, sodass ich nicht mit dem Schreiben beginnen kann. Geduldig räume ich noch ein paar Sachen in der Küche auf, gehe ins Schlafzimmer und mache die Betten, komme zurück und lese in einem Gartenratgeber … Ich hätte schon einiges schreiben können. In meinem Kopf sprudeln die Gedanken.

Dann endlich, mein Mann ist mit der Zeitung durch, ich setze mich hin und greife nach meinem Laptop, aber ich hätte wahrscheinlich eher nach den Sternen greifen können. Denn genau in diesem Moment muss mein Mann noch nach der Börse und dem Fußball schauen. Ich warte, es dauert ja nicht lang. Schließlich hat er dass dann auch erledigt und schiebt mir gerade den Computer herüber, da fällt ihm ein, dass er noch nicht Wetter-online war. Mit den Worten Warte mal eben zieht er das begehrte Teil wieder zu sich zurück.

Er weiß, dass ich ein sehr geduldiger Mensch bin. Irgendwann scheint er endgültig das Gefühl zu haben, mit seiner morgendlichen Informationsaufnahme fertig zu sein und stellt den Laptop vor mich hin, während ich mir das Mousepad inklusive Mouse herüberziehe. Kaum schaue ich auf den Bildschirm, steht mein Mann hinter mir und legt seine Hand auf die Mouse. Ich spüre seinen Atem auf meinem Nacken und ein dadurch aufkommendes Gefühl in mir. Aber augenblicklich holt mich das Klicken der Mouse wieder runter. Er wollte nur noch schnell nach den Ölpreisen und den Verkehrs-Meldungen schauen, das hatte er vergessen. Ich sehe mich außerstande es ihm abzuschlagen.

Dann nimmt er mein Handy, weil seines gerade aufgeladen wird, legt es, nach der Benutzung, weit weg von mir auf ein Regal und setzt sich wieder hin, um noch einen Kaffee zu trinken. Kein Problem für mich, ich will ja nicht telefonieren, ich will NUR schreiben.

Ich logge mich ein, um an MEINE Daten zu kommen und fange an zu tippen, während mich mein Mann an interessanten Neuigkeiten teilhaben lässt. Er informiert mich über aktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft, lokale Vorkommnisse, die Todes-Anzeigen und erzählt mir die neuesten Storys. Immer wieder fällt ihm etwas ein. Ich bin ganz Ohr, obwohl ich es hinterher oft bereue, denn ich bin nun einmal ein Sensibelchen – aber leider auch neugierig. Das nutzt mein Mann für sich. Sein ganzes Wissen möchte er mit mir teilen. Aber leider ist mein Fell nicht so dick wie seines. Die gesamte weltpolitische Lage belastet mich und bringt mich zum Grübeln, und Horror-Meldungen machen mir noch mehr zu schaffen. Wie auch immer, an diesem Morgen werde ich wieder einmal bestens informiert.

Mein Mann und ich unterhalten uns gerne und viel und das ist wertvoll und wichtig für uns beide, auch wenn mein Beitrag an der Unterhaltung meist weniger als zehn Prozent ausmacht, weil ich mich immer zurückhalte. Warum das so ist, weiß ich nicht, denn ich hätte viel zu sagen. Aber es fing schon in meiner Kindheit damit an, dass ich bei einer Unterhaltung quasi übersehen wurde, also kaum zu Wort kam – und das ist bis heute so geblieben. Ich gewöhnte mich daran. Ich sage nur: strenger Vater, ständig beratende Mutter, zwei ältere Brüder und eine schon immer eloquente kleine Schwester, in deren Beruf sich heute alles um Werbung, Texte und deren Konzeption dreht. Ich scheine nach wie vor immer mit einem Schild durch die Gegend zu laufen, auf dem in Großbuchstaben steht: ICH DARF ÜBERHÖRT WERDEN! IST EH NICHT SO WICHTIG.

Mein Mann und ich befinden uns gerade in einer wunderbaren Lebensphase, in der wir vormittags Zeit haben uns in Ruhe zu unterhalten. Ich empfinde das als absoluten Luxus. Das steht im krassen Gegensatz zu den ersten dreißig Jahren unserer Ehe, in der wir fast immer das Gefühl hatten, dass uns die Zeit davonrennt und wir „zu nichts kommen“. Jetzt habe ich für alles mehr Zeit, sogar für meine neue Schreib-Leidenschaft. Nur ohne Schreib-Gelegenheit bleibt sie auf der Strecke.

Nach unserer ausführlichen Unterhaltung am Frühstückstisch geht mein Mann nach oben in sein Arbeitszimmer. Ich lehne mich entspannt zurück, schaue auf den Bildschirm und fange an zu schreiben. Die Gedanken fließen und die Finger tun alles, um mitzuhalten. Da höre ich das Telefon, ein leises Klicken. Es ist der Klingelton, den wir meiner Mutter zugeordnet haben, damit ich ihrem Telefonterror wenigstens ein wenig entfliehen kann. Es ist angenehmer, wenn es nur klickt, statt ständig zu klingeln, bis sich der Anrufbeantworter einschaltet.

Mein Mann hört sich jetzt wohl gerade an, was sie aufspricht. Wahrscheinlich geht es wieder um das Übliche. Sie fragt nach ihrer EC-Karte, denn sie will Bargeld vom Geldautomaten holen oder ihren drogenkranken Enkel schicken, damit er das für sie erledigt.  Dabei haben wir alles so eingerichtet, dass sie in ihren Läden ganz bequem bargeldlos einkaufen kann, wovon sie fleißig Gebrauch macht.

Da sich mein Mann nicht bei mir rührt, scheint es wirklich nichts Dringendes zu geben. Es klickt unaufhörlich und mir wird klar, dass meine Mutter wieder einmal in ihrer täglichen Anrufphase ist und zur Höchstform aufläuft. Durch ihre Demenz vergisst sie leider ständig, dass sie ihre Wünsche schon aufgesprochen hatte. Der Anrufbeantworter nimmt alles geduldig auf, bis er voll ist. Dann gibt er bei jedem weiteren Anruf einen entsprechenden Signalton von sich, und meine Mutter lässt von uns ab.

Ich könnte mir eine bessere Geräuschkulisse vorstellen, als dieses Telefon-Klicken, aber sie hält mich nicht vom Schreiben ab, zum Glück. Ich bin mitten in meinen Gedanken, da kommt mein Mann herunter und möchte wissen, was er mitbringen soll. Er will mit dem Fahrrad in den Ort fahren und einkaufen. Wir überlegen noch, was es zum Mittagessen geben soll und ich schreibe schnell einen Einkaufszettel. Den drücke ich ihm in die Hand und lächelnd einen Kuss auf den Mund.

Als er endlich losgefahren ist, meldet sich die Waschmaschine. Okay, denke ich und atme tief durch, gehe nach unten und beginne mit dem Aufhängen – natürlich die WÄSCHE, NICHT MICH.

(Fortsetzung folgt morgen)

Neues Leben für Friedhofs-Abfall

Als ich vor Kurzem meine Mutter besuchte, ging ich die Straße meiner Kindheit entlang, um Kuchen für uns zu holen. Es ist die Straße, in der ich aufgewachsen bin und in der mein Elternhaus steht. Die großen Häuser sind alle so um 1890 gebaut worden, damals für jeweils eine Familie. Jetzt wohnen meistens zwei bis fünf Parteien in jedem Haus – eigentlich eine gute Sache, wenn sich wenigstens einer der Bewohner um den Außenbereich kümmert. Bei manchen Häusern klappt das aber gar nicht. Das kann man unter anderem daran erkennen, dass sehr viele Blumentöpfe mit mehr oder weniger toten Blumen die breiten Sandstein-Treppenstufen zum Hochparterre-Eingangsbereich säumen.

Im Laufe der Jahre brachte wohl immer wieder mal der eine oder andere Bewohner eine schöne Topfpflanze vom Marktplatz mit und stellte sie zur Verschönerung des Anwesens dort ab. Die Blume ging dann langsam ein und eine neue wurde danebengestellt. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Treppe unbegehbar sein wird. Davon abgesehen scheinen die Bewohner die Hoffnung zu hegen, dass die verblühten und vertrockneten Blumen irgendwann wieder zum Leben erweckt werden und neu erblühen. Dazu wäre es allerdings ratsam sie zu gießen oder eine Nenn-Tante von mir „einfliegen“ zu lassen, eine echte Pflanzen-Versteherin. Sie holte früher schon verwelkte Blumen aus dem Friedhofs-Abfall und päppelt sie zu Hause wieder auf. Aber hier würde selbst sie sagen: „Kann ich die Friedhofsblumen noch mal sehen?“

Auch das eine oder andere, von seinen Besitzern am Zaun angeschlossene Fahrrad, wartet schon jahrelang vergeblich darauf, von seinen Fesseln befreit zu werden. Jedoch auch hier kommt wohl jede Hilfe zu spät, wenn ich mir die Überbleibsel genauer ansehe. Eins der Fahrräder ist von Unkraut komplett überwuchert. Ich frage mich, wo die Menschen geblieben sind, die hier einmal ihre Fahrräder angeschlossen hatten. Vielleicht wollten sie nur Zigaretten holen gehen und sind dann in ein neues Leben geschlüpft. Aber warum sind sie dann nicht mit dem Fahrrad davongefahren? Eigenartig.

Die Vorgärten sind fast alle mit einer niedrigen Mauer eingefasst, auf der verschnörkelte schmiede-eiserne Zaunelemente angebracht sind. Vor sehr langer Zeit hatte sich in einem der Vorgärten ein Baum direkt an der Mauer selbst gesät. Er wuchs im Laufe der Jahre so groß, dass seine riesigen Wurzeln die Mauer langsam aber sicher anhoben. Die Hausbesitzer schienen lange Zeit blind zu sein.

Erst als die Mauer umzukippen drohte, wachten sie auf und ließen den Baum fällen. Aber damit war das Problem noch lange nicht gelöst. Also ließen sie die schräge, einsturzgefährdete Mauer mit einer provisorisch wirkenden Schrauben-Stahl-Konstruktion an dem Verursacher-Baumstumpf befestigen. So wurde der Verursacher zum Schadensbegrenzer. Was soll man sagen? Schrecklich blöd und doch genial!

Ein anderes Haus hat einen Efeu- und Birkenschaden. Der Baum ist bestimmt 15 Meter hoch, beschattet sämtliche Fenster der Hausfront und verliert Unmengen von Abfall (wenn auch biologisch abbaubar), der ständig weggefegt werden muss. Wie dumm ist das denn? Mit Schicksal hat das nichts zu tun. Manchmal vergessen die Menschen, dass man Dinge nicht unbedingt als gegeben hinnehmen muss, sondern auch rechtzeitig etwas gegen Spätfolgen unternehmen kann.

Birken gehören ohnehin nicht in die Stadt, sondern ins feuchte Moor, und so große Exemplare passen schon gar nicht in einen Vorgarten, in dem sie mit ihren durstigen Wurzeln häufig auch noch Abwasserrohre beschädigen. Aber warum sollte irgendjemand klüger sein als die von ihm gewählten Politiker? Wie vorausschauend denken die denn?

Ich habe den Eindruck, Politiker sehen ihre Aufgabe zunehmend darin, erst einmal abzuwarten und den Bürgerinnen und Bürgern gebetsmühlenartig zu versichern, dass alles in Ordnung sei und sie alles im Griff hätten. Wenn dann irgendwann akuter Handlungsbedarf besteht, thematisieren sie ganz überrascht diese im Grunde vorhersehbare Entwicklung und beschäftigen sich intensiv mit Schuldzuweisungen. Köpfe rollen und oder schauen dumm aus der Wäsche bzw. aus Schlips und Perlenkette. Dann wird die ach so vertraute Raute gezeigt, die irgendwie eine beruhigende Wirkung auszuüben scheint. Das ist ein Phänomen, wenn man bedenkt, dass dabei 80 % der Finger nach unten gerichtet sind. Aber das ist wohl noch niemandem aufgefallen.

Fange ich etwa gerade wieder an zu grübeln? Nein ich schreibe über die Straße meiner Kindheit. Ja mein Elternhaus liegt mitten in der Stadt. Inzwischen ist die Wohngegend wieder begehrt und manche Häuser werden komplett renoviert. Ich gehe immer gerne durch die Straße und schaue mir an, was sich so tut. Dann stelle ich mir vor, wie schön es wäre, wenn alle Häuser wieder so aussehen würden, wie vor über hundert Jahren, mit den Stuckfassaden, den Säulenaufgängen und den hohen Fenstern.

So ging ich weiter bis an die Ecke zum Tante Emma Laden, der jetzt ein unentbehrlicher Onkel Ösyl-Laden ist. Dort sahen mich makellos schöne Himbeerkuchen-Stücke an, denen ich nicht widerstehen konnte. Der klare Tortenguss auf den wohlgeformten Himbeeren glänzte verführerisch.

Aber man soll eben nicht nur nach dem Äußeren gehen. Zu Hause am Kaffeetisch glaubte ich, meinen Geschmacksknospen nicht zu trauen. Der Guss schmeckte, als hätte der beliefernde Bäcker Parfum hineingeschüttet. Ich denke, der Bäcker musste verliebt gewesen sein oder unter Körpergeruch leiden, oder beides. So bin ich einmal wieder desillusioniert worden, was Kuchen kaufen betrifft. Für mich allein ist das kein Problem, weil ich inzwischen sowieso lieber ein Sandwich oder ein Brötchen zum Nachmittagstee mag.

Und so träumte ich von einer Etagere voller Gurken- und Kresse-Sandwiches, während meine Mutter mich immer wieder dasselbe fragte.