Und täglich quakt das Murmeltier

Unsere Mutter bekommt nun also täglich Mittagessen geliefert. Teils vom Feinkost-Laden an der Ecke, teils von „Essen auf Rädern“. Sie ist  87 Jahre alt und sie sah ein, dass jemand der unbedingt über hundert Jahre alt werden will, regelmäßig zu Mittag essen sollte.

Seitdem kann man sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier – bei mir telefonisch – per Flatrate. Ihr Feedback über das Essen reicht von totaler Begeisterung bis zu völliger Ablehnung. In stark variierendem Tonfall vermeldet sie dann abwechselnd folgendes:

– Solch eine Essenslieferung wäre ja wunderbar! (Essen kochen war nämlich noch nie ihr Ding.) Aber sie käme sich so faul vor, wenn sie nicht selbst kochen würde. Es würde wirklich gut schmecken.

– Es wäre Essen geliefert worden, was sie damit solle. Das bisschen könne sie sich auch selber kochen. Das wäre viel zu wenig und es wären keine Kartoffeln dabei. Außerdem würde es überhaupt nicht schmecken. Wer hätte das eigentlich bestellt? Wer es bestellt, müsse es auch zahlen.

– Die hätten wieder Essen gebracht. Die Portion wäre viel zu groß. Sie würde womöglich noch dick davon werden. Sie würde das Menü auf keinen Fall essen! Zwei Stunden später ein erneuter Anruf: Warum sie heute kein Essen bekommen hätte, sie hätte solch einen Hunger. Am nächsten Tag, nach der nächsten Lieferung, wunderte sie sich darüber, dass zwei Mittagsmenüs auf dem Tisch standen, ein kaltes und ein heißes.

Aber heute schoss sie den Vogel ab: Ihre kindliche Selbstüberschätzung ging einmal wieder mit ihr durch und daraufhin ein Lachkrampf mit mir:
„Ja, ich wollte Essen auf Rädern haben“, räumte sie ein, „aber doch jetzt noch nicht. Dafür bin ich noch zu jung!“

Wer nicht will, der hat!

In den letzten Jahren lehnte es unsere Mutter immer kategorisch ab, sich Essen auf Rädern „anrollen“ zu lassen. Aber nach ihrer Operation vor zwei Jahren probierten wir diesen Service einfach aus. Wir bestellten ihr für eine Woche fertige Menüs, sodass sie täglich versorgt wurde. Die Bezeichnung „Essen auf Rädern“ wurde von uns aus psychologischen Gründen tunlichst vermieden – von der Firma auch, denn sie warb mit einem „Menü Lieferservice“. Ich weiß nicht, ob die Mahlzeiten so gut geschmeckt hatten, wie sie auf den Fotos aussahen. Unsere Mutter wollte sie jedenfalls nie wieder haben und behauptete selbstbewusst, sie würde sich täglich selbst Essen kochen.

Anderthalb Jahre später nutzten meine Schwester und ich die Gunst der Stunde für einen zweiten Versuch. Wir waren wieder einmal gemeinsam eine ganze Woche durchgehend bei unserer Mutter zu Besuch. Über diese kostbare Zeit mit ihren Töchtern ist sie immer überglücklich. Wir unterhalten uns dann über Gott und die Welt, unternehmen etwas, schauen uns Fotos an … Wenn sie immer und immer wieder die gleichen Fragen stellt,  schalten wir beim Antworten auf „Automatik“. So ist und bleibt es harmonisch. Und wir essen natürlich zusammen.

Das war für uns DIE Gelegenheit ihr zu demonstrieren, wie gut man das Essen vom Lieferservice genießen kann. Um ja keinen Fehler zu machen, probierten wir einen anderen Anbieter. Der Name „Landhausküche“ klang auch sehr viel besser als der erste. Meine Schwester und ich hatten uns nun also freiwillig als Versuchskaninchen für eine einwöchige Testreihe zur Verfügung gestellt.

Gemeinsam mit unserer Mutter aßen wir uns durch die aktuelle Speisekarte, indem wir uns täglich drei verschiedene Gerichte liefern ließen. Was soll ich sagen? Bei jedem Menü standen sich Geschmack und Konsistenz auf der einen Seite und der Anbietername auf der anderen Seite umgekehrt proportional gegenüber. Im Grunde waren die in Plastik verpackten Portionen in den Garwägen „verkocht“ worden. Wir mussten unserer Mutter Recht geben und hörten damit auf, ihr ein warmes „Essen auf Rädern“ zu empfehlen. Immer gemäß ihres eigenen Mottos: Wer nicht will, der hat! 

Aber seit Kurzem spürt unsere Mutter, dass ihre Kräfte schwinden. Ihr ist klar geworden, dass sie gar nichts mehr kocht und sich im weitesten Sinne nur noch von Brot und Joghurt ernährt. Ist die Zeit nun reif für einen Lieferservice? Wir nutzten sofort die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Meine ökoangehauchte Schwester, die sich ohnehin immer über zu viel Plastik im Alltag aufregt, hatte sofort eine Idee. „Wir können doch den Mittags-Tisch-Lieferservice vom türkischen Feinkostladen an der Ecke nutzen. Dann kommt das Essen auf einem Porzellanteller und wird nicht drei Stunden durch die Gegend gefahren.“ Als ich unsere Mutter auf diese geniale Lösung vorbereiten wollte, traute ich meinen Ohren nicht: „Nein das will ich nicht!
Ich will Essen auf Rädern!“