Essen auf Mecker-Basis

Meine Mutter hat sich heute Vormittag wieder telefonisch darüber beschwert, dass sie täglich Essen geliefert bekommt. (Natürlich erst, nachdem sie es sofort aufgegessen hatte.) Sie müsste damit rechnen, dick zu werden, wenn sie das jeden Tag essen würde.

Ich persönlich steh nicht so auf Märchen, aber das kommt mir irgendwie bekannt vor: „Määäh, ich bin so satt, ich mag kein Blatt!“ Unsere täglichen, telefonischen Diskussionen betreffend könnte ich meine Mutter folgendermaßen beschreiben:

Widerspenstigkeit in der Basisnote, Unberechenbarkeit  in der Kopfnote und Zuneigung in der Herznote gefolgt von Unsicherheit im Abgang mit Anklängen von Lob!

Dass man von einem normal portionierten Mittagessen, das vorwiegend aus Gemüse besteht, dick wird, den Zahn konnte ich ihr ziehen. Leider wächst er ständig wieder nach. Also sage ich ihr in einer Art Dauerschleife, dass doch geregelte Zeiten beim Essen wichtig sind, weil man sonst den ganzen Tag vor lauter Hunger oft nur ungesunde Sachen in sich hineinstopft – und die machen dann tatsächlich dick. Dieses Argument scheint sie dann jedes Mal zu fressen, sprich einzusehen – aber leider nur für gefühlte 30 Sekunden.

Ich habe das Gefühl, ich kann mir die Zähne ausbeißen an dieser ganzen unsäglichen Diskussion über die ambulante Versorgung meiner Mutter.

Wie ich weiß, mag sie gerne mal Bratwurst essen. Gestern beschwerte sie sich allerdings darüber, dass es Bratwurst gab, weil sie sich die auch selbst zubereiten könne. Theoretisch sicher, aber praktisch funktioniert das schon lange nicht mehr, weil sie bereits beim Einkauf ihr Vorhaben wieder vergessen hat oder die gekaufte Bratwurst im Kühlschrank vergisst. Wenn sie dann mal Appetit darauf hat, kann sie nicht wie im Märchen einfach sagen, „Esel streck dich“, und schon ist die gewünschte Wurst da. Ach nein, der machte ja Goldstücke. Wie auch immer. Mit dem Lieferservice ist es trotzdem märchenhaft. Täglich kommt das Essen, sogar ohne dass man sagen muss: „Tischlein deck dich“

Wer nicht will, der hat!

In den letzten Jahren lehnte es unsere Mutter immer kategorisch ab, sich Essen auf Rädern „anrollen“ zu lassen. Aber nach ihrer Operation vor zwei Jahren probierten wir diesen Service einfach aus. Wir bestellten ihr für eine Woche fertige Menüs, sodass sie täglich versorgt wurde. Die Bezeichnung „Essen auf Rädern“ wurde von uns aus psychologischen Gründen tunlichst vermieden – von der Firma auch, denn sie warb mit einem „Menü Lieferservice“. Ich weiß nicht, ob die Mahlzeiten so gut geschmeckt hatten, wie sie auf den Fotos aussahen. Unsere Mutter wollte sie jedenfalls nie wieder haben und behauptete selbstbewusst, sie würde sich täglich selbst Essen kochen.

Anderthalb Jahre später nutzten meine Schwester und ich die Gunst der Stunde für einen zweiten Versuch. Wir waren wieder einmal gemeinsam eine ganze Woche durchgehend bei unserer Mutter zu Besuch. Über diese kostbare Zeit mit ihren Töchtern ist sie immer überglücklich. Wir unterhalten uns dann über Gott und die Welt, unternehmen etwas, schauen uns Fotos an … Wenn sie immer und immer wieder die gleichen Fragen stellt,  schalten wir beim Antworten auf „Automatik“. So ist und bleibt es harmonisch. Und wir essen natürlich zusammen.

Das war für uns DIE Gelegenheit ihr zu demonstrieren, wie gut man das Essen vom Lieferservice genießen kann. Um ja keinen Fehler zu machen, probierten wir einen anderen Anbieter. Der Name „Landhausküche“ klang auch sehr viel besser als der erste. Meine Schwester und ich hatten uns nun also freiwillig als Versuchskaninchen für eine einwöchige Testreihe zur Verfügung gestellt.

Gemeinsam mit unserer Mutter aßen wir uns durch die aktuelle Speisekarte, indem wir uns täglich drei verschiedene Gerichte liefern ließen. Was soll ich sagen? Bei jedem Menü standen sich Geschmack und Konsistenz auf der einen Seite und der Anbietername auf der anderen Seite umgekehrt proportional gegenüber. Im Grunde waren die in Plastik verpackten Portionen in den Garwägen „verkocht“ worden. Wir mussten unserer Mutter Recht geben und hörten damit auf, ihr ein warmes „Essen auf Rädern“ zu empfehlen. Immer gemäß ihres eigenen Mottos: Wer nicht will, der hat! 

Aber seit Kurzem spürt unsere Mutter, dass ihre Kräfte schwinden. Ihr ist klar geworden, dass sie gar nichts mehr kocht und sich im weitesten Sinne nur noch von Brot und Joghurt ernährt. Ist die Zeit nun reif für einen Lieferservice? Wir nutzten sofort die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Meine ökoangehauchte Schwester, die sich ohnehin immer über zu viel Plastik im Alltag aufregt, hatte sofort eine Idee. „Wir können doch den Mittags-Tisch-Lieferservice vom türkischen Feinkostladen an der Ecke nutzen. Dann kommt das Essen auf einem Porzellanteller und wird nicht drei Stunden durch die Gegend gefahren.“ Als ich unsere Mutter auf diese geniale Lösung vorbereiten wollte, traute ich meinen Ohren nicht: „Nein das will ich nicht!
Ich will Essen auf Rädern!“